Mit den Augen fremder Sprachen

Jede Sprache beobachtet die Welt mit anderen Augen, schreibt Herta Müller in ihrem letzten Buch “Der König verneigt sich und tötet”. In ihren Erinnerungen wird die Sprache zum Seismographen der Lebensbedingungen. Aufgewachsen mit dem Dialekt des Dorfes und dem dürftigen Hochdeutsch der Schule, erlernte sie mit 15 in der Stadt die Landessprache, staunend über “die Verwandlung der Gegenstände durch die rumänische Sprache... Fast jeder Satz ist ein anderer Blick. Das Rumänische sah die Welt so anders an, wie seine Wörter anders waren”. Und Herta Müller betont, dass in allen ihren Werken das Rumänische – als Teil ihrer Identität - präsent ist: “selbstverständlich schreibt das Rumänische immer mit, weil es mir in den Blick hineingewachsen ist”.
Autorinnen und Autoren aus fremden Sprach- und Kulturräumen haben seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts unübersehbaren Anteil an der Entwicklung der deutschsprachigen Literatur. Kulturelle Überschreibungen, die Auseinandersetzung mit Fremderfahrungen und Identitätssuche, eine eigene Sprachgebung setzen in ihren Werken enormes künstlerisches Potential frei.
Nach gängiger Lesart werden sie immer noch als RepräsentantInnen ihrer Herkunftsländer wahrgenommen, obwohl ihre Literatur eine andere, vielstimmige Sprache spricht, die ethnische Festschreibungen und Fremddefinitionen unterläuft und Vorstellungen von festgefügten kulturellen, regionalen und nationalen Identitäten in Frage stellt.

Gisela Holzner

 

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