Büchertisch

Photo: fotowerk.at

Wie macht Literatur Wissenschaft nutzbar – und was sagt die Wissenschaft darüber?
Impressionen von den 38. Innsbrucker Wochenendgesprächen von Joe Rabl

Am Anfang beginnen: beim (gezeichneten) Urknall

Die Gespräche beginnen in diesem Jahr mit Bildern, mit einem Überblick über knapp 14 Milliarden Jahre, gezeichnet vom Berliner Grafiker, Illustrator und Comic-Zeichner Jens Harder. Er erzählt von seiner Arbeit an dem Monumentalwerk „Alpha / Beta / Gamma“ und dass er dabei schon mal von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen eingeholt wurde. Harder erläutert den Einsatz von Bildmetaphern und sein Arbeitsprinzip: Montage und Zeitsprünge, um Entwicklungen darzustellen. Sein Antrieb, sich dieser Aufgabe zu stellen, war sein Wunsch, die Entstehung der Erde und der Menschheit einmal gezeichnet zu sehen; wobei er seinen Comic eher als gezeichneten Essay sieht, als einen Versuch, die Evolution in grafischer Form zu fassen.

Gedichte: Gespräche mit einem Gegenüber

Andrea Grill weist auf die Gegensätze von Literatur und Wissenschaft hin; aufregend sind für sie die Unterschiede; als größte Gemeinsamkeiten sieht sie die Genauigkeit und die Suche nach dem, was wahr ist. Gedichte sind für sie ein Gespräch mit dem Gegenüber; als Wissenschaftlerin kann sie sich auch einschließen, was sie unabhängiger macht. Als Autorin braucht sie das Feedback, weil sie dabei etwas gibt, das aus ihr kommt; als Wissenschaftlerin beobachtet sie, was ist. Ums (Auf-)Schreiben geht es auch in der Wissenschaft, aber in sehr formalisierter Form. Die Welt nach ihrem Geschmack gestalten, das kann sie im Roman; hier erfindet sie, nützt sie die Freiheit der Kunst, auch wenn es viel Handwerk ist; geschätzter Anteil Intuition/Spontaneität: 30 Prozent; bleiben fürs Handwerk immerhin 70 Prozent …

Literatur in der Röhre: neurowissenschaftliche Ansätze

Arthur Jacobs, der Hirnforscher, will nachprüfen, wie wir in poetische Sprachwelten eintauchen und was dabei im Gehirn passiert; wie Metrum, Reim und Rhythmus das endogene Belohnungssystem im Hirn stimulieren. Wo „leuchtet“ was im Gehirn, wenn wir ein Gedicht lesen? Oder wo entsteht im Gehirn das Unheimliche, etwa bei der Lektüre von E.T.A. Hoffmann? Seine Arbeit kann man sich unter anderem so vorstellen: Er legt Probanden in die Röhre, lässt sie Texte lesen und schaut, was sich im Gehirn tut: Harry-Potter-Lektüre im Kernspintomografen … Literarische Texte, vor allem Gedichte, eignen sich besonders gut für seine Forschungen, weil es verdichtete, komprimierte Texte sind. Interessant auch: Wenn Texte als fiktiv wahrgenommen werden oder als real, werden jeweils andere Areale im Gehirn aktiviert.
Doch wie sieht das intersprachlich aus (A. Grill)? Und funktioniert das auch intersubjektiv (S. Geist)? Die Wissenschaft, so Jacobs, versucht Aussagen mithilfe von großen Versuchsreihen zu treffen – sie verallgemeinert. Der Unterschied zur Literatur mit ihrem subjektiven Zugang liegt auf der Hand. Die Immersion, das Eintauchen in eine virtuelle Umgebung, die die Wissenschaft zu verstehen und beschreiben versucht, muss sie selbst ausklammern. In der Literatur ist sie Teil der poetischen Intervention (S. Geist) und damit einer der großen Vorzüge von Literatur. Jacobs abschließend: Die Neurowissenschaft kann viel von der Poesie lernen; umgekehrt ist das eher nicht der Fall.

Wir sprechen eine Sternensprache, ohne das Universum zu erfassen

Peter Steiner beginnt den Nachmittag anekdotisch und erzählt vom Einfluss der Beatles auf die Wissenschaft; auch Forscher sind Beatles-Fans und so heißt unsere Urmutter nach einem bekannten Song der Liverpooler Boygroup jetzt eben Lucy. Steiner, der zeitlebens als Geologe gearbeitet hat, sieht einen Gegensatz von Wissenschaft und Literatur: In der Wissenschaft dient die Sprache der Verständigung, die Poesie geht darüber hinaus, sie macht auch noch die Sprachlosigkeit sichtbar; und findet gleich ein poetisches Bild dafür: „Wir sprechen eine Sternensprache, ohne das Universum zu erfassen.“ Raoul Schrott, ebenso versierter wie belesener Moderator der Gespräche, findet in Steiners Buch „Sandfallenbauer“ immer wieder Stellen, wo die beiden Welten zur Deckung kommen, und er stellt fest, wie sehr das naturwissenschaftliche Verständnis den Blick auf die Welt prägt: der Blick des Geologen, der den Boden „liest“.

Literatur aus dem Sprachlossein geboren?

Anna-Elisabeth Mayer nimmt von Peter Steiner den Begriff der Sprachlosigkeit auf, sie spricht von den Zwischenräumen und den Untiefen, die in der Literatur sichtbar gemacht werden können. Ihr Schreiben hat denselben Antrieb wie der Protagonist in ihrem Roman „Die Hunde von Montpellier“: wie der Arzt Rondelet Mitte des 16. Jahrhunderts die Körper öffnet, will auch sie die Welt enträtseln; die Literatur findet aber andere Antworten als die Wissenschaft. Auch in ihrem Roman findet Raoul Schrott Beispiele, in denen Wissenschaft und Literatur ineinander aufgehen; offenbar löst der empfundene Widerspruch zwischen den – vielleicht vorsichtiger abwägenden – Statements der AutorInnen und ihrer konkreten Arbeit nachhaltige Irritation aus.

Die Welt ist hermetisch, der Mensch bedarf ihrer Beschreibung und Deutung

Sylvia Geist benennt die Janusköpfigkeit ihrer Interessen: schon in der Schule hat sie sich für Deutsch und Chemie gleichermaßen interessiert. An der Chemie ist es die Formensprache, die nach wie vor ihr Interesse weckt; hier sieht sie auch eine Verwandtschaft: Formeln und Gedichte sind ästhetische Produkte; Darstellungsformen, die das Unübersichtliche anordnen. Aber sie sind „unterschiedliche Geschwister“: Formeln sind der Objektivierung verpflichtet; Gedichte lassen sich auf nichts verpflichten, sie verkünden keine Wahrheit außer einer, die sich aus subjektiver Wahrnehmung ableiten lässt. Ihr Impuls für Literatur ist in erster Linie Selbstverständigung, nicht Verständigung mit anderen. Die Welt ist hermetisch, und der Mensch bedarf ihrer Beschreibung und Deutung, sagt sie, und auch, dass das Erkenntnispotenzial von Lyrik begrenzt ist auf subjektive Ausschnitte. Aus dem Periodensystem der Elemente schöpft sie wie aus einer Apotheke; aber sie muss in Beziehung dazu kommen, was sie als „Andock-Effekt“ der Literatur an die Realität in ein schönes Bild fasst.

Aus dem Meer der Einzelerkenntnisse schöpfen

Am späten Nachmittag entspinnt sich dann noch eine spannende Diskussion über die (künstliche) Trennung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften. Arthur Jacobs sieht den Gegensatz von Verstehen und Erklären als soziale Konvention. Thomas Lehr weist darauf hin, dass die Literatur ein Ort sein kann, wo Verstehen und Erklären wieder zusammengefügt werden können. Die Literatur kann Kategorien aufbrechen; gleichzeitig versucht sie auch, das Weltbild ihrer Zeit unterzubringen. Sylvia Geist geht es dabei um Relevanz; die Rolle des Universalgenies kann heute ohnehin von niemand mehr ausgefüllt werden; es wird immer schwieriger, sich auch nur in einem Bereich auf dem Laufenden zu halten; die Fülle der Erkenntnisse mache eine interdisziplinäre Herangehensweise gerade so wichtig. Oder wie Thomas Lehr es ausdrückt: „das Meer der Einzelerkenntnisse“, in dem wir uns bewegen und aus dem die Literatur schöpft. Ulrich Woelk betont zum Schluss die Stärken der narrativen Mittel: Für Verständigung braucht es keine Masterkonzepte; man kann das aufgesplitterte Wissen auch ästhetisieren – und verstehen.

Nachdenken über die Zeit auf Augenhöhe mit der Wissenschaft

Thomas Lehr hat in seinem Roman „42“ neue Denkräume literarisch nutzbar gemacht, eine harmonische Verbindung von Literatur und Naturwissenschaft versucht. Sein Antrieb dafür war das Interesse an den philosophischen und physikalischen Theorien über die Zeit. Literatur kann Wissen verwenden, wissenschaftliche Erkenntnisse vermitteln; doch auch AutorInnen, die keine Wissenschaftler sind, haben lebensweltliche Erkenntnisse; und es gibt einen ästhetischen Erkenntniseffekt, der in den Wissenschaften nicht zu finden ist. Lehr nennt als Beispiel Arthur Schnitzler, der vorweggenommen hat, was Sigmund Freud erst später wissenschaftlich greifen konnte. Die Literatur kann auch Erkenntnisse gewinnen, die nur interdisziplinär zu haben sind. Die Wissenschaft strebt in erster Linie nach Erkenntnis, nicht nach Ästhetik; die Aussagen müssen nachvollziehbar sein und deshalb standardisiert. Kunst will erzählen; primär sind nicht Erkenntnisse, sondern ästhetische Motive; hier gilt: je ästhetischer, desto besser. Kunst ist Wiedergabe der Welt in subjektiv verzerrter Form; der Reiz liegt für Lehr im Unterschied zwischen der tatsächlichen und der symbolischen Welt. Die Literatur kann eine Brücke schlagen: Man muss nicht Teilchenphysik studieren, man kann auch Wissen erwerben durch Lesen. Der Autor muss dafür Fachwissen mit ästhetischer Relevanz versehen. Die Kunst gewinnt so auch Erkenntnisse, für die es keine Wissenschaft gibt, und diese Erkenntnisse sind nicht geringer als wissenschaftliche Erkenntnisse; das ist einer der Gründe, warum wir Romane lesen.

An Schrauben drehen, an denen wir in der Realität nicht drehen können

Philosophie, sagt Michael Hampe, ist weder Literatur noch Wissenschaft, sondern etwas Drittes. Wenn Platon in den Dialogen nicht seine Meinung sagt, sondern Meinungen vorführt, dann ist das dem Roman ähnlich. Die Philosophie strebt wie der Roman nach semantischer Autonomie; aber helfen die Wissenschaften, um ein gutes Leben zu führen? Laut Sokrates ist ein gutes Leben nur durch Selbsterkenntnis möglich; und Selbsterkenntnis ist eine andere Form als wissenschaftliche Erkenntnis. Hampe nennt als Beispiele Ibsen und dessen vielfältige Thematisierung der Lebenslüge; sowie den „Fremden“ von Camus. Manchmal gehe die Philosophie in andere Wissenschaften über, manchmal eben in Literatur. Das Prinzip der Literatur ist ja, im Roman Welten zu simulieren, das können auch die Wissenschaften; und die Philosophie mache das ständig. Simulation heißt: an Schrauben drehen, an denen wir in der Realität nicht drehen können; Wissenschaft, Literatur und Philosophie machen das nach anderen, je eigenen Verfahren; die Philosophie (und Hampe) nützt den Dialog, um es spannender zu machen, weil die Menschen sich mehr für Menschen interessieren als für Dinge.

Bücher als Experimentalanordnungen: Experimente mit Figuren ausführen

Eines der Interessen von Ulrich Woelk ist, die Figur des Wissenschaftlers sichtbar zu machen. So hat er in „Die Einsamkeit des Astronomen“ durchgespielt, wie es gewesen wäre, wenn er Astronom geblieben wäre und sich nicht für die Literatur entschieden hätte. Kunst und Literatur haben für ihn mit der Wissenschaft eines gemeinsam: Sie entwerfen Modelle der Wirklichkeit; wenn auch mit sehr unterschiedlichen Vorgaben. Seinem Kriminalroman „Pfingstopfer“ liegt eine wissenschaftliche Idee zugrunde: die Frage nach dem freien Willen; das lässt sich nirgends besser zeigen als in einem Kriminalroman. Als eine der Stärken der Literatur sieht er, dass sie von der Welt in ihrer Pluralität und Unberechenbarkeit ausgeht; als Autor weiß er, dass die Realität nur in einzelnen Aspekten ästhetisch fassbar ist; sich dem zu stellen, einen kleinen Teil des Ganzen im Romankosmos fassen, ist, was Literatur leisten kann. Wissenschaft ist immer Reduktion von Komplexität, aber in der Realität ist die Vielfalt die Regel und die Berechenbarkeit die Ausnahme. Die schönsten Schaffensmomente sind für ihn, wenn Dinge passieren, die vorher nicht abzusehen waren; als Autor muss er für diesen Moment offen bleiben.

Vom metaphysischen Grundbedürfnis zum großen Narrativ der Gegenwart

Die Abschlussrunde klärt offene Fragen und mündet in eine Grundsatzdiskussion über moralisch-ethische Fragen; diese entzündet sich am Begriff „esoterischer Quatsch“, in die Diskussion geworfen am Beispiel Newtons, aber auch anderer Physiker der Vergangenheit. Ulrich Woelk sieht es als große Leistung, in dem „historisch bedingten Nebel“ die Fakten zu sehen und zu extrahieren. Thomas Lehr findet es als Romancier wunderbar, wenn Wissenschaftler wie Newton auch noch mystisch und kabbalistisch denken. – Aber wie sieht es heute aus? Gibt es gegenwärtig ein religiöses bzw. metaphysisches Grundbedürfnis? Der Hirnforscher Arthur Jacobs glaubt das nicht. Sylvia Geist erinnert daran, dass auch der Materialismus metaphysische Anteile hat und man auch darin das universelle Bedürfnis erkennen könne. Für Lehr hat die Wissenschaft die gleiche Wurzel wie die beiden großen Narrative Religion und Nation: sich die Welt erklären wollen. Ulrich Woelk bringt abermals die Literatur ins Spiel, sie liefere nicht die eine große Mastererzählung, sondern viele individuelle. Für Michael Hampe ist das große Narrativ der Gegenwart der Markt; wenn wir die Mastererzählungen als Orientierung benutzen, dann ist der Marktliberalismus die Orientierung schlechthin. Für Lehr hat die Religion sehr wohl noch Macht als Narrativ; außerdem muss man auch der Wissenschaft glauben; die Notwendigkeit, daran zu glauben, speist sich aus dem Bedürfnis nach Vollständigkeit. Die arbeitsteiligen Wissenschaften, so Hampe, können das nicht mehr befriedigen; der Wissenschaft komme auch die Fähigkeit abhanden, produktiv zu spekulieren; da seien Literatur und Philosophie im Vorteil. Sylvia Geist: Wenn die herkömmlichen Narrative an ihre Grenzen stoßen, sei eben die Literatur aufgerufen, Stellung zu beziehen; doch es stellt sich die Frage: Ist sie überhaupt noch in der Lage, Antworten auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verwerfungen zu finden? Die Literatur kann, da sind sich alle einig, zumindest Fragen stellen – und eine gut erzählte Geschichte ist eine mögliche Antwort.

© 2003-2015 Innsbrucker Wochenendgespräche - E-Mail - Impressum