Statement für die Innsbrucker Wochenendgespräche „Literatur und Wissenschaft“

Aufregend sind eher die Unterschiede; doch will ich mich bei dem, was ich für die Gemeinsamkeiten halte, kurz aufhalten. Zu beweisen, etwas sei ähnlich, wenn nicht gar gleich, ist stets schwieriger als das Gegenteil. Eine Gemeinsamkeit will ich herausstreichen: die Genauigkeit. Ungenaue, also schlampige Wissenschaft stimmt so wenig wie ein schlampiges Gedicht. Schon die Begriffe passen nicht zusammen: Gedicht & schlampig. Worte tragen ihre Geschichte in sich, selbst wenn wir sie, aussprechen ohne daran zu denken. Etwas Dichtes kann nicht ungenau sein.

Nicht wenn es ein Text ist; wenn es gefrorenes Wasser ist, vielleicht.

Mit „schlampig“ meine ich nicht das Fragmentarische, das Vage, das in beidem, Dichtung und Wissenschaft, weit führen kann; ich meine das Unsorgfältige.

Die Sorgfalt, die Umsicht ist zu spüren, wenn etwas wahr ist; und da ist die nächste Gemeinsamkeit: die Suche nach dem, was wahr ist. Sei es in der Erfindung, der Erzählung. Gelungene Experimente existieren nur, wenn sie erzählt werden, oder im Dialog mit mindestens einem Kollegen und werden umso wirklicher, je besser sie aufgeschrieben, je häufiger sie zitiert werden. Publish oder perish, schreib oder verschwinde; auch jeder Wissenschaftler kennt das aus eigener Erfahrung, was nicht geschrieben ist, gibt es nicht; oder zumindest erzählt muss es sein, dann schreibt womöglich ein anderer es auf.

Sorgfalt darf waghalsig sein.

Jemand sonnt sich am Fensterbrett im dritten (fünften, zehnten) Stock, ohne Gitter, kennt seine Balance, verliert sie nicht.

In beidem, Forschen wie Dichten, gibt es Genuss und grenzenlose Anstrengung; die Durchdrungenheit des ganzen Lebens/Wesens des (Ver)Dichters/Wissenschaftlers von dem, was ihn drängt; was er sucht.

Bei einem Experiment, in dem es um eigentlich etwas anderes ging, in einem Seminar mit dem Thema „Facts und Fiction: Wissenschaft als Dichtkunst“ hat ein Student, Michael En, zufällig eine treffende Definition formuliert:

„Ein Wissenschaftler ist ein Enthusiast für etwas, das vielen langweilig erscheint.”

Eins zu eins würde ich das auch für den Dichter übernehmen.

Kunst als reine Emotion zu betrachten ist ein Missverständnis, manchmal auch der Künstler selbst. Falls Vernunft ein Gegenpol zur Emotion ist, wäre das Gedicht das vernünftigste von allen. Sobald es um Stil geht, kommt die Vernunft ins Spiel, oder: die Ordnung – wer würde Stilloses (auf Dauer) schön finden? Stillosigkeit ist etwas für Kinder, ein paar Jahre lang liebenswert, ja; nichts für Schriftsteller.

Wie würde man jemandem, der sich wochenlang überlegt, ob es eine Leerzeile geben soll zwischen zwei Versen, ob ein Beistrich da stehen soll oder ein Strichpunkt, ob man schreiben soll:

Ich habe geliebt
oder:
Ich liebte
oder:
ich begann zu lieben, wie würde man so jemandem die Rationalität absprechen,
die Vernunft?

Die Wissenschaft ist sogar oft relativ unvernünftig.

Ein empirischer Beweis?
– Bitte darum.
Ich habe meine Dissertation auf einer rein emotional-ästhetischen Ebene gegründet.
– Wie das?
Ich wollte auf Sardinien leben.
– Und?
Da habe ich das Buch »Tagfalter Europas« durchgeblättert, auf der Suche nach einem Falter, der nur auf der Insel vorkommt. Es gab zwei. Einer davon war und ist so selten, dass man pro Jahr höchstens zehn Exemplare davon zu Gesicht bekommt. Den habe ich nicht gewählt. Der zweite fliegt zur rechten Zeit überall. Den habe ich genommen.

Weil wir in Innsbruck sind und er hier begraben liegt, fällt er mir ein: Georg Trakl, sagte meine Lektorin, auf die Frage, welche Gedichte sie denn gerne lese, nachdem meine es offenbar nicht waren. Ich nehme eine (vernünftige) Trakl-Form.

Wissenschaft

Die freie Seele hat sich willig eingeschlossen,
Offne Fenster sind für immer blind,
Das Brüllen der Maschinen ersetzt das Lachens eines rosig Kind.
Auch Sonntags zählen Finger unverdrossen

Zahllose Orchideensamen. Geht die Sonne auf
Oder unter, des Forschers Schläfe zucket nicht
Auf seiner Stirne steht ewig eine Pflicht,
Beobachte der Weltenteilchen Lauf.

Der Dirnen Stimmen, die manch andrem Antlitz
Tau entlocken und Schatten auf die Wangen zeichnen,
Sind ihm das Singen einer Nachtigall, ein ratloser
Windzerwühlter Blick auf nächtlich bleiche Eichen.

Ob der Lektorin das gefiele? Die Andrea-Form wäre folgende.

Wissenschaft

wir wollen jetzt die Einsamkeit
berechnet haben die in unserer Haut steckt
beweisen dass wir den Himmel sequenziert
haben sein ganzes Genom –
das Christkind züchten können aus einem Oleanderbaum
& jetzt und für immer frei sein von den vagen Vulgaritäten
unserer vermaledeiten Endlichkeit,
Schnupfen, zum Beispiel

Mein Trakl ist natürlich kein Trakl. Und was würde er sagen, wüsste er, dass ich ihm den Ton kopiert habe? Die Atmosphäre?

„Und also wundertätig ist die Zeit, / Daß man die Engel sucht in Menschenblicken, / Die sich in unschuldsvollem Spiel entzücken. / Ja! Also wundertätig ist die Zeit.“, schreibt Trakl.

Ein Gedicht kann zum Gebet werden.
Das gehört vielleicht zu den Unterschieden.

Der Ton ist in der Wissenschaft ziemlich auswechselbar geworden; die Persönlichkeit des Verfassers einer wissenschaftlichen Arbeit soll verschwinden, während sie beim Lyriker erlauscht wird. Nicht als Biografie oder Haarfarbe: als Rhythmus und Melodie, die unverwechselbare Schwingung, die uns erinnert, dass jeder von uns einzigartig ist. Die Wissenschaft hat andere Ziele.

Andrea Grill

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