Portrait Thomas Lehr
Photo: Peter-Andreas Hassiepen

Thomas Lehr


1957 in Speyer geboren, lebt in Berlin. Zahlreiche Auszeichnungen. Bei Hanser erschienen 
u. a. die Romane Nabokovs Katze (1999), Frühling (2001), Fata Morgana (2010, Shortlist Deutscher Buchpreis), 42 (2013). Berliner Literaturpreis 2011, Marie-Luise-Kaschnitz-Preis 2012.


Einmal sah ich eine sterbende Taube auf der Außentreppe von Saint-Sulpice und eine alte Frau, die sie mit einem Stein erschlug und in ihre Tasche steckte. Schwarzweiß, auf sprödem Zeitungspapier, in einer schrecklichen Ziehharmonika aus Autoblech, verbogenem Chrom, aufgeschlitzten Polstersitzen, herausgerissenen elektrischen Kabeln finde ich die letzten fotografischen Überbleibsel meiner Eltern, zwei ovale weiße Flächen, ihre Windjacken wie grob aufgerasterte Seelen. Meine Mutter schickt mich auf den Weg, es ist Herbst, Anfang Oktober, mein neuer Schulranzen drückt ungemütlich gegen die Wirbelsäule, erste Kastanien sind herabgefallen, noch in ihren grünen Morgensternschalen, aus denen ich sie vorsichtig herausdrücke, das Heftpflaster auf meinem Finger ist fasrig und grau. In einem rot, orange, quittengelb leuch­tenden Blätterhaufen fällt mir ein seltsames Objekt auf, ein Ball, denke ich zunächst, aber es ist eine Kugel aus Glas. Als ich mich herabbeuge, geschieht unendlich viel, sie ist jetzt ein ganzer Planet und die Welt ist in Ordnung.


Aus: 42, dtv, 2013


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