Literatur und Musik

Oft finde ich erst durch das Hören von Musik in den Ton eines Romans oder Gedichts. Meist ist es eine klassische, aus meiner Schulzeit vertraute Komposition. Als würden die Schreibkräfte erst durch das Abtauchen in frühe Jahre geweckt.

Vielleicht ist mir darum Jankélévitch näher als Adorno. Adorno sieht in einer Komposition ein geschlossenes Gebilde, das seine eigenen ästhetischen Gesetze entwirft, Jankélévitch hingegen interessiert sich für die schwer faßbare Nahtstelle zwischen Musik und Leben.

In seiner Dankesrede für den Nobelpreis erwähnt Kazuo Ishiguro, wie ihn die Stimme von Tom Waits bei der Arbeit an einem Roman geleitet hat. Das Abgründige und emotional Komplexe einer menschlichen Stimme will er in einem literarischen Text einfangen, durch eine komplexe ästhetische Form soll ein Roman Emotionen wecken wie die Musik. Doch ist über eine ästhetische Form die Emotion überhaupt in irgendeiner Weise zu regeln?

Einerseits scheint die Beziehung zwischen Musik und Sprache evident. In der Musikalität, in der Prosodie eines Textes glauben wir zu erahnen, was das Wort allein nicht zu fassen vermag. Suchen wir diese Beziehung jedoch zu ergründen, verweigert uns die Sprache ihren Dienst. Wir werden Mühe haben, über Musik und ihre Beziehung zur Sprache zu reden.

Lesen ist in der Regel ein stilles Geschäft. Musik muß sich Gehör verschaffen. Worte schaffen leicht Distanz, Musik hebt sie ebenso leicht wieder auf. Ihre bevorzugte Domäne ist Emotion, Verführung und Identifikation. Anders als die Literatur ist sie in unserem Alltag längst omnipräsent. Als industrielles und zweckentfremdetes Massenprodukt nimmt sie gerade in ihrer Dauerpräsenz, in ihrer Unentrinnbarkeit und oft simplen Gestik ‚faschistoide’ bzw. tyrannische Züge an. Zu tyrannischen Systemen gehört die Kontrolle aller Lebensbereiche, die Auflösung zwischen privatem und öffentlichem Raum. Ein Rückzug in die Stille, ins Nachdenken soll erschwert und somit eine Distanznahme verhindert werden.

Mit Identifikation und Distanz sind die beiden Pole benannt, zwischen denen sich ein literarischer Text bewegt. Was bedeutet diese Ambivalenz, wie gehen wir bei unserer Arbeit damit um? Oder sind das bereits verträumte Begriffe, sind wir bereits in einer Zeit angekommen, in der Distanz und Identifikation keine lebensgestaltende Rolle mehr spielen?

Jürg Beeler

© 2003-2018 Innsbrucker Wochenendgespräche - E-Mail - Impressum - Datenschutz