Literatur und Reisen

reisen ist: aufbruch aus sich selbst
das öffnen der häfen
wirf den kompass ins meer
segle in ungestundete zeit
in das nie betrachtete, das nie gedachte
das nie benannte

lautlos versinken die koordinaten hinter dem horizont
neue nächte und tage steigen empor

staunen:
nichts ist so groß wie das namenlose

denken wie der winter: in fallendem schnee
denken wie das eis: in kristallen
wie der frühling: in blüten
wie die hitze: im zirpen der grillen

denken wie der vogelschwarm: im tanz

vereinzelt flattern frisch geflügelte worte über mich hinweg

Kunst ist immer Reise: Aufbruch.
Vorstoß in die Fremde. In das Nie Betrachtete, Nie Gedachte.
Der Verlust des Koordinatensystems ist eine Voraussetzung für den poetischen Umgang mit Welt.
Das Kunstwerk ist Pionier in geistigen Gefilden.
Die Kunstbetrachter folgen ihm, als erste Siedler.
Später ziehen ganze Städte nach.

Der Aufbruch aus sich selbst, der Zustand radikalen Reisens,
ist für mich Voraussetzung für künstlerisches Schreiben.

Ich suche das Staunen.
Einen Zustand zwischen Überwältigung und Hingabe.
Einen Augenblick, in dem ich das Geschehen noch nicht intellektuell erfasse,
indem es noch unbegriffen vor mir steht. Unbenannt. Unkategorisiert. Frei.

Das ist der Augenblick, indem ich mich entscheiden kann:
Ordne ich das Geschehen ein, in ein bestehendes Weltbild, in ein bestehendes Denkmuster, fasse ich es mit bestehender Sprache.
Oder: begegne ich dem Geschehen neu. Finde ich eine neue Betrachtung.
Finde ich eine neue Sprache.

Gelingt eine neue Begegnung
und gelingt es weiter, die neue Begegnung zu verschriftlichen,
dann staunt auch der Leser.
Dann gelingt auch dem Leser ein Aufbruch aus sich selbst.
Dann wird Lesen zur Reise im radikalen Sinne.
Dann haben wir es mit Literatur zu tun.

Katharina Winkler

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