Portrait Stefan Slupetzky
Foto: Privat

Manuela Di Franco

studierte Philosophie und Linguistik und veröffentlichte die sprachphilosophische Untersuchung Die Seele. Begriffe, Bilder und Mythen. Sie ist als Lektorin und Texterin tätig und bietet unter dem Label „Wortkiosk“ Spracharbeiten für alle Textarten an. Ausgedehnte Reisen führen sie, am liebsten in Zügen und auf Schiffen, gern auch an abgelegene Orte. Mit dem Roman Der Himmel ist grün debütierte sie 2017 als Autorin. Manuela Di Franco lebt in der Schweiz und in Frankreich.

Ich habe nicht gedacht, dass es geschehen würde. Und dann ging es so schnell, dass ich es nicht sofort bemerkte. Eine Nacht und ein Tag waren vergangen, seit es Chalil gab in meiner Welt. Chalil mit den Tigeraugen. Mundwinkelküsse, Augenschliessen – da muss es geschehen sein.

Eine Nacht im Mai, die Luft war leicht. Die Zeichen standen auf Anfang, und alles schien möglich.

„Ich möchte einmal nach Indien reisen“, sagte Chalil. „Auf dem Landweg. Über den Balkan. Dann Istanbul, das Tor zu Asien, und von dort aus immer weiter ostwärts.“

„Das wäre grossartig“, sagte ich. „Wir würden stets dem Morgen entgegenreisen, dem Sonnenaufgang, dem neuen Tag.“

Ich hörte dieses „Wir“ und erschrak. Doch Chalil schien es nicht zu irritieren. Ich sah ihn von der Seite an und dachte: Morgen früh schon würde ich mit dir in den Zug einsteigen und losfahren. Da erst merkte ich, dass die Welt nicht mehr dieselbe war wie eine Nacht und einen Tag zuvor. [...]

Es hatte einen einzigen Moment gebraucht, um loszufahren und alles hinter mir zu lassen. Doch es sollte Wochen, Monate, Jahre dauern, bis ich wieder ankommen würde. Und genau genommen kam ich nie wieder an im alten Leben. Die Pole wurden eins, doch es schloss sich kein Kreis.

Es gibt kein Zurück, sagt man, aber erst viel später sollte ich begreifen, was dies bedeutet. Erst als der Nebel, in dem sich unser Weg verloren hatte, sich wieder lichtete. Erst als ich Chalil längst verloren hatte und die neue Zeit Erinnerung geworden war.

Aus: Der Himmel ist grün. Roman einer Reise. Lenos: Basel 2017




© 2003-2019 Innsbrucker Wochenendgespräche - E-Mail - Impressum - Datenschutz

Facebook logo with linkInstagram logo with link