Literarische Mutter- und Vaterfiguren

"Manchmal stelle ich mir die Erdkarte ausgespannt und Dich quer über sie hin ausgestreckt vor. Und es ist mir dann, als kämen für mein Leben nur die Gegenden in Betracht, die Du entweder nicht bedeckst oder die nicht in Deiner Reichweite liegen. Und das sind entsprechend der Vorstellung, die ich von Deiner Größe habe, nicht viele und nicht sehr trostreiche Gegenden" … schreibt Franz Kafka im "Brief an den Vater". In den Erzählungen "Das Urteil" und "Die Verwandlung" wachsen übermächtige Vatergestalten geradezu ins grotesk Monströse, wenn sie ihr Verdammungsurteil über die scheinbar nichtswürdigen Söhne fällen. Aber Kafka gibt der uralten Geschichte vom Familiengericht eine neue Gestalt, indem er sie inhaltlich-stofflich und formal ins Absurde und Paradoxe übersteigert. Die Risse treten sichtbar zutage, im 20. Jahrhundert stürzt das Gebäude der unumschränkten Autorität in sich zusammen.

Literarisch in Szene gesetzt verweisen Figuren und Vorgänge im familiären Beziehungsgeflecht symbolhaft darüber hinaus auf alle anderen geltenden Ordnungen der Gesellschaft. Mit ihrem Wandel verändern sich auch die Rollenbilder in der Literatur und der Blickwinkel auf sie. Andere Themenkomplexe und Konfliktfelder treten in den Vordergrund. So gewinnen beispielsweise nach dem Sturz der patriarchalen Herrschertypen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Mutterfiguren an Präsenz, häufig übernehmen Töchter und Söhne die Anklägerrolle gegen die Eltern, auch die Abwesenheit der Mütter und Väter wird zum Thema. Die immer wiederkehrenden Grundmotive in der Geschichte des Familiendramas beruhen auf grundlegenden Erfahrungen des menschlichen Daseins, dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Ordnungssysteme und Lebensformen, der Loslösung im Prozess der Selbstwerdung und der endgültigen Trennung im Tod. Mutter- und Vaterfiguren können die Betrachterin / den Betrachter fesseln – auf berührende oder auch verstörende Weise – vor allem dort, wo sie auf der literarischen Bühne als Charaktere und Darsteller menschlicher Schicksale auftreten.

G.H.

Die Gespräche finden im Ensembleproberaum des Tiroler Landestheaters statt, Freitag, 19.5. und Samstag, 20.5., jeweils von 10.00 – 12.00 und von 15.00 – 17.00 Uhr. (Direkt erreichbar mit dem Lift, Eingang Sowi-Durchgang neben dem Abo-Büro) Einlass jederzeit, und immer willkommen.

Die Lesungen im ORF Tirol kulturhaus am Donnerstag, 18.5. und Samstag, 20.5., beginnen jeweils um 20.15 Uhr.

Eintritt frei

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