Abkömmlinge des Geheimnisses

Zum Glück kann man Freude an Gedichten haben, ohne Formeln zu mögen, und umgekehrt. Aber ich sehe Verwandtschaft zwischen ihnen. Ich stelle sie mir als Angehörige einer Familie vor, einer Sprachfamilie des Hermetischen. Zugegeben, im Reich der Chemie ist das keine originelle Gedankenverbindung. In den Hermetika des Mittelalters wurden sowohl alchimistische als auch chemische Themen behandelt und gingen nicht selten ineinander über, die Metallurgie galt nicht weniger als Geheimwissenschaft als die Astrologie, wobei den zwei Seiten der Begriffsmedaille gleich viel Bedeutung beigemessen wurde, dem Geheimnis wie der Wissenschaft. Das Geheimnis oder, zeitgenössischer ausgedrückt, die offene Frage ist der Link. Die Welt ist hermetisch, und der Mensch bedarf ihrer Beschreibung und Deutung, kurzum, einer Hermeneutik des Geheimnisses.
Die Formel verdichtet. Das Gedicht formuliert. Beide sind paradox. Sie sind Instrumente der Hermeneutik, dabei aber selbst bis zu einem gewissen Grad hermetisch. Sie erschließen oder beschreiben in ihrem jeweiligen hermetischen Idiom und reagieren damit auf die Verschlossenheit ihres Gegenstands – auf das Geheimnis, dessen Abkömmlinge sie sind. Sie stellen Vereinfachungen dar und bedienen sich dazu komplexer Chiffren.
Beide leben von ihrer Form, von Strukturen, deren Entwicklung der Notwendigkeit geschuldet ist, in der unübersichtlichen und unabsehbaren Wirklichkeit Muster aufscheinen zu lassen, Hierarchien, vorläufige Ordnungen. Sie sind Darstellungsformen, die das Unübersichtliche in einer Weise anordnen, die den Umgang damit erleichtert oder überhaupt erst ermöglicht. 
Beide sind nicht zuletzt ästhetische Produkte, sie haben sinnliche Aspekte, die man genießen kann, ohne sie zu durchdringen. Die Strukturformel eines Moleküls z.B. ist auch ein visuelles Ereignis, und ein fremdsprachiges Gedicht kann durch seinen Klang mitreißen, auch wenn man im Wortsinne „nichts davon versteht“. Obwohl Formel und Gedicht einen gewissen Grad an Eingeweihtsein in die Grundzüge der jeweiligen Formensprache voraussetzen und von einem vergleichsweise kleinen Kreis rezipiert werden: Beide wirken, und zwar unabhängig von ihrer Anwendbarkeit. (Womöglich ließe sich das Verhältnis zwischen Anwendbarkeit und Wirkung sogar als umgekehrt proportional beschreiben – wenn auch nur unter der lyrischen Voraussetzung der Mehrdeutigkeit von „Wirkung“.)
Trotz ihrer Gemeinsamkeiten bleiben Formel und Gedicht natürlich sehr unterschiedliche Geschwister. Formeln sind der Objektivierung verpflichtet, ihre Sprache zielt auf Entzifferbarkeit jenseits der Barrieren, die die Verschiedenheit der menschlichen „Zungen“ ihrer restlosen Übersetzbarkeit entgegenstellt, und ist deshalb, wenigstens innerhalb der einzelnen Fachbereiche, der Angleichung bzw. Vereinheitlichung unterworfen.
Gedichte lassen sich auf nichts verpflichten. Sie dienen nicht. Sie verkünden keine Wahrheit außer einer, die sich aus subjektiver Wahrnehmung ableiten lässt. Der Eigensinn, der ihre poetischen Sprachen ungleich macht, unverwechselbar im besten Fall, ihr babylonisches Element, ist eines der wichtigsten Qualitätskriterien von Lyrik. Aber wo ein Gedicht gelingt, kann es dennoch sehr verlässlich und wiedererkennbar Auskunft geben über eine Probe, die der Welt in einem bestimmten Moment unter bestimmten Umständen entnommen wurde. Wie Formeln können Gedichte vom Faktischen abstrahieren, und wie Gedichte sind Formeln imstande, unseren Träumen – und Alpträumen – Ausdruck zu verleihen. Ihre Ordnungen sind Erfindungen, wie das Rutherfordsche Atommodell eine Krücke, an der wir am Unübersichtlichen und Unabsehbaren entlangtasten. Und haben die schönsten Krücken nicht die Form von Fragezeichen?

Sylvia Geist

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