Gehirn und Gedicht oder wie wir in poetische Sprachwelten eintauchen
Wie entstehen Gedanken und Gefühle beim Lesen? Wie fabriziert unser Gehirn aus Tintenklecksen Buchstaben, Silben, Reime, Worte und Rhythmen, Bedeutung und Emotion? Wie kommt es, dass wir in eine Textwelt so versinken, dass wir die Umwelt um uns herum vergessen? Diese Fragen haben Raoul Schrott und ich in Gehirn und Gedicht (GuG; Schrott & Jacobs, 2011) aus den Perspektiven der kognitiven Poetik, Ästhetik und Rhetorik sowie derjenigen der modernen Neurowissenschaft behandelt und teilweise noch spekulativ beantwortet.
Ausgangspunkt dieser theoretischen Studien war unsere Überlegung, dass dem Gedicht beim Lesenlernen und damit auch bei der Entwicklung der Gedanken- und Gefühlswelt, eine besondere Rolle zukommt, weil es wie kaum eine Gattung in der Lage ist, derart verdichtet die Komplexitäten vorzuführen, mit denen unser Hirn die Welt um uns und in uns konstruiert; weil es Denken und Sprache, Melodiken und Bilder auf überschaubare Weise, nicht selten sogar mit Spiel, Spaß, Stimmung und Emotion vereint.
Wie Turner und Poeppel schon vor 30 Jahren zeigen konnten, stellt die mit Metrum, Reim und Rhythmus ausgestattete Poesie eine ideale Technik dar, das endogene Belohnungssystem des Hirns zu stimulieren und sensibilisieren und so die integrativen mentalen Kräfte zu verbessern. Poetische Sprache spielt mit unserem affektiven und kognitiven Apparat auf eine Weise, die empirische Hirnforschung erleichtert: sie arbeitet mit einem Katalog formaler Stil- und Denkfiguren wie Polysemie, Ironie, Oxymoron, Meiosis usw., welche die teils angeborenenen perzeptiven, affektiven und kognitiven Schemata abbilden und klare Vorhersagen darüber zulassen, wie und wo im Gehirn solche verbalen Stimuli prozessiert werden, beispielsweise in Analogie zu optischen Täuschungen oder sog. Basisemotionen. Mit den Worten von T&P, ‚sie vermittelt uns eine Erfahrung, die für unser Gehirn optimal designed ist‘. Einerseits ist Poesie auf der perzeptiven und ästhetischen Ebene tief mit Klang- und Vorstellungsbildern verknüpft, andererseits geht es meist um den Ausdruck und die Evozierung von Gefühlen. In Goethe’s ‚Ein Gleiches‘ findet beispielsweise die lautmalerische Qualität des Wortes ‚Hauch‘ (H, ch) ein Echo im reimenden Klang (ch) und diese Überlagerung kreiert eine zweite sublexikalische affektive Bedeutung, welche die lexikalische unterstützt: ‚Auch dein Leben ist wie eine Brise und wird ebenso leicht verwehen‘.
In einer Reihe von Studien hat meine Arbeitsgruppe in den letzten Jahren versucht, theoretischen Schlüsselannahmen aus GuG experimentell zu überprüfen. So haben etwa untersucht, wie sublexikalische Merkmale des affektiven Klangs die Interpretation und emotionale Gesamtbewertung von Gedichten beeinflussen und somit zum Phänomen der Immersion, des Eintauchens in Textwelten bei gleichzeitigem Ausblenden der Realität, beitragen. Ich werde dies hier an einigen Beispielen anhand von poetischen Texten, wie Enzensberger’s ‚verteidigung der wölfe‘ und Prosatexten wie Auszügen aus Harry Potter diskutieren. Weitere Studien zielten auf die Überprüfung der sog. Panksepp-Jakobson Hypothese (nach dem Erfinder der poetischen Funktion, RJ, und dem einflussreichsten neurowissenschaftlichen Emotionstheoretiker, JP), laut der die Evolution keine Zeit hatte, spezielle Strukturen für die affektive und ästhetische Rezeption von Kunst oder gar Literatur zu entwickeln und deshalb die Basisemotionen und ästhetischen Gefühle, die wir etwa bei der Poesielektüre empfinden, nur unter Beteiligung uralter Affektschaltkreise zustande kommen können, die wir mit allen Säugetieren teilen. Dies werde ich an Studien zur Lektüre von E.T.A. Hoffmann’s ‚Der Sandmann‘, zur Prozessierung von verfremdeten Sprichwörtern und zu Fiktionsgefühlen beim Lesen der sog. ‚black stories‘ diskutieren.
Alle diskutierten Befunde sprechen für die von Raoul Schrott und mir in GuG vertretene These, dass original literarische und poetische Textmaterialen sich besonders gut dazu eignen, menschliche Emotionen und insbesondere das Phänomen der Immersion mit den Methoden der modernen Hirnforschung zu untersuchen und so Antworten auf elementare Fragen der Neuro- und Humanwissenschaft zu liefern.
Arthur Jacobs