Portrait Raoul Schrott
Photo: Peter-Andreas Hassiepen

Raoul Schrott


1964 in Landeck geboren, aufgewachsen in Tunis und Tirol, Studium der Literatur- und Sprachwissenschaft in Norwich, Paris, Berlin und Innsbruck, 1986/87 Sekretär von Philippe Soupault, 1990–93 Lektor am Istituto Orientale, Neapel, 1997 Habilitation am Institut für Komparatistik, Innsbruck, 2008/09 Samuel-Fischer-Gastprofessor an der Freien Universität Berlin, lebt heute in Vorarlberg. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.  a. den Mainzer Stadtschreiber-Preis und den Joseph-Breitbach-Preis. Bei Hanser erschienen u. a. Handbuch der Wolkenputzerei (2005), Homers Heimat (2008), die Neuübertragung der Ilias (2008), Die Blüte des nackten Körpers (2010), Das schweigende Kind (2012), Theogonie. Hesiod (2014).


Ob Cabets ideale kommunistische Stadt, Speers neues Berlin, Versailles, Washington, irgendeine Mormonensiedlung, chinesische Stadtplanungen oder eine europäische Trabantenstadt mit ihren Plattenbauten, sie drücken allesamt dasselbe Prinzip aus. Geometrische Bauten als Abbild eines auf die Erde projizierten Sonnensystems und seines Regelwerkes. Dass die durch rigorose Symmetrie zum Vorschein gebrachten physikalischen Gesetze unerbittlich sind, so gar nicht menschlich, macht offenbar die Faszination dieser immer wieder hervorgeholten Idee aus. Ich als Methusalem kann meine abgrundtiefe Abneigung für solch sterile Vorstellungen mit meiner Lebenserfahrung untermauern. Was den Menschen reizt, ist die Abweichung, das Überbordende und Schmutzige, sinnleer Vergeudetes – wie ja auch in der Kunst, nicht wahr? Denn was den Menschen von der Gültigkeit des Universums abhebt, ist sein Hang zur Perversion: Ob Nächstenliebe oder Aggressivität – sie alle weichen von jedem natürlichen Maß ab. Kein Tier ist so gewalttätig und so heillos in etwas vernarrt wie der Mensch.


Aus: Das schweigende Kind, Hanser, 2012


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