Plädoyer für einen relevanten Kriminalroman

Liebe Zuhörer, woran denken Sie, wenn Sie das Wort "Kriminalroman" hören? An Mord und Spannung? An fiese Täter, mitleiderregende Opfer und menschelnde Ermittler? Gemütliche Stunden am Strand, im Sessel, im Bett, Stunden, in denen Sie abschalten können und nicht mehr gefordert werden? Denken Sie: Zum Glück ist das jetzt nicht anstrengend oder unbequem wie Tellkamps "Der Turm" oder Ransmayrs "Die letzte Welt" oder Jelineks "Neid", sondern einfach nur Unterhaltung?

Das wäre schade.

Denn Kriminalromane können mehr, als nur zu unterhalten. Sie können relevant und wichtig sein, im allerbesten Fall vielleicht sogar so relevant und wichtig wie "Der Turm", "Die letzte Welt" oder "Neid".
Sie sollen nur nicht. Sie sind Genre. Unterhaltung.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich habe überhaupt nichts gegen gute Unterhaltung, die nicht mehr sein will als gute Unterhaltung und schon gar nicht relevant oder wichtig. Was "gut" bedeutet, ist natürlich subjektiv. Der eine Krimileser kann nicht ohne Mord, die andere nicht ohne Spannung, der dritte nicht ohne menschelnden Ermittler. Jedem das Seine, das ist in Ordnung, außerdem sind wir da ja beim Inhalt, und der Inhalt desselben Buches kommt bei drei unterschiedlichen Lesern eben dreimal unterschiedlich an.

Gehen wir also einen Schritt zurück. Ein Roman besteht aus Sprache. Sprache im Roman muss einen Rhythmus haben, einen Klang, eine Organisation – und sei es bewusst eine Sprache des Alltags, die ohne Rhythmus, Klang und Organisation auskommt. Die Sprache muss auch beim Krimi gut sein, sonst wäre das Buch, das Sie in der Hand halten, wie ein Auto, das nicht fährt, ohne schlimm zu ruckeln.

Wir können als Käufer und Leser erwarten, dass unser Buch nicht ruckelt.

Schade nur, dass es vielen Lesern gleichgültig ist. Vielleicht, weil ihnen Sprache überhaupt gleichgültig ist. Da kann man dann nichts machen. Man muss es akzeptieren.

Aber es gibt andere Leser, denen die Sprache wichtig ist. Die wissen und schätzen, was Sprache alles kann. Dass sie im Kopf des Lesers Bilder und Eindrücke und Atmosphäre zaubern kann. Dass sie das eine meinen kann, wenn sie das andere ausspricht. Dass es hinter dem Gesagten vielleicht etwas Ungesagtes gibt, was möglicherweise viel wesentlicher ist als das Gesagte. Denn Sprache im Roman ist ja nicht einfach die Aneinanderreihung von Wörtern. Sprache im Roman ist eine Komposition. Zumindest im besten Fall.

Das alles wissen diese Leser. Schade nur, dass sie es in aller Regel bei literarischen Romanen einfordern, aber nicht beim Krimi. Da ist es ihnen egal, wenn die Sprache keine Komposition ist, sondern Zufall. Was zählt, ist ausschließlich der Inhalt. Wenn man sie fragt, weshalb, antworten sie: "Na ja, ist doch nur ein Krimi."

Würden Sie ein Auto kaufen, das dauernd ruckelt? Sagen Sie dann: "Na ja, ist doch nur ein grönländisches Auto?"
Sie sollten besser sagen: "Na ja, ist halt ein schlechter Krimi." Denn zu sagen: "Na ja, ist doch nur ein Krimi", bedeutet, eine große, wesentliche, herrliche Literaturtradition zu leugnen. Es bedeutet, eine Kunst zu missachten, die uns unvergessliche Stunden im heimischen Sessel geschenkt hat. Denken Sie an die Romane von Conan Doyle, Chandler, Hammett, Dürrenmatt, Highsmith, Greene, Simenon, Eco, Vargas, Haas und so weiter und so fort. Denken Sie an die großartigen Romanverfilmungen wie "Der Malteser Falke" oder "Der dritte Mann" oder "Der Name der Rose". Das Interessante ist, dass bei einem ruckelnden Kriminalfilm niemand sagen würde: "Na ja, ist doch nur ein Krimi." Man würde sagen: "Schau ihn dir bloß nicht an." Nur beim Buch bewegt man sich klaglos über eine Schotterstraße, die behauptet, sie wäre asphaltiert, und blendet bereitwillig aus, dass eigentlich etwas Fundamentales nicht stimmt.

Schluss damit! Eine Herabstufung wie "Na ja, ist doch nur ein Krimi", haben Chandler, Dürrenmatt, Vargas etc. nicht verdient. Lassen Sie sich nicht von ruckelnden Büchern verschaukeln. Verlangen Sie auch beim Krimi sprachliche Qualität!

Schon richtig, wir müssten dann mindestens die Hälfte aller Krimis wegwerfen und die Hälfte aller Krimilektoren maßregeln und die Hälfte aller Krimiübersetzer zur Nachschulung schicken. Aber das wäre es wert. Steigt der Anspruch an die Kriminalliteratur, müssten wir Krimiautoren uns (noch) mehr anstrengen. Es würde mehr richtig gute Kriminalromane geben.

Und damit kommen wir zum Wesentlichen.

Wenn der gute Krimi ähnlich geachtet wäre wie der gute literarische Roman, weil der Krimiautor ähnlich mit Sprache umgehen kann wie der literarische Kollege, dann dürfte der Kriminalroman ganz offiziell auch wichtig und relevant sein, wie man es sich vom literarischen Roman immer erhofft (und selten bekommt). Man hätte keine Scheu mehr anzuerkennen, dass Kriminalromane mehr können dürfen als Mord, Spannung und Ermittler. Ja, dass die relevante Literatur heute vor allem im Genre Krimi geschieht.

Relevante und wichtige Krimis können nur Autoren schreiben, die mit Sprache umzugehen wissen. Die Sprache ist die Basis für Relevanz und Bedeutung. Sie transportiert und formt den Inhalt. Sie macht die Thematik eindrücklich und verständlich – oder eben nicht.

Nehmen wir Don Winslows "Tage der Toten" (2005, dt. 2010). Sprachlich ungewöhnlich, unbequem, herausfordernd – und wann hat man in der Literatur je tiefere und umfassendere Einblicke in den mexikanischen Drogenkrieg bekommen? Oder Merle Krögers "Havarie" (2015). Sprachlich so vielschichtig wie die Charaktere, eine Handvoll unterschiedlichster Menschen, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen auf dem Mittelmeer begegnen: Flüchtlinge in einem Schlauchboot, Angestellte und Passagiere eines Kreuzfahrtschiffes, Arbeiter eines Frachters, die Seenotrettung. Oder denken Sie an Ferdinand von Schirach, den Strafverteidiger, der in seinen Kurzgeschichten so gekonnt von kleineren und größeren Kriminellen erzählt, dass man als Leser ein Stück unbekannte Wirklichkeit kennenlernt.

Drei Beispiele für großartig erzählte und deshalb relevante und wichtige Kriminalromane. Winslow und von Schirach haben es auf die Bestsellerlisten geschafft und liegen in Stapeln in den Buchhandlungen aus. Andere relevante und wichtige Kriminalautoren haben dieses Glück nicht; schon Merle Kröger gehört zu Letzteren, soweit ich weiß, obgleich sie zahlreiche Preise erhalten hat. Die Namen der meisten anderen kennt man nicht einmal.
"Anspruchsvoller Krimi?", sagt mein Lieblingsagent. "Sehr schwierig zu vermitteln." Weil die Mehrheit der Leser sich mit Krimis zufrieden gibt, die beim Lesen sprachlich ruckeln – Hauptsache Mord, Spannung und menschelnde Ermittler. Also bestehen die Krimistapel in den Buchhandlungen vor allem aus sprachlich mittelmäßigen bis schlechten, aber ganz sicher nicht relevanten oder wichtigen Romanen.

Und das ist besonders schade.

Denn relevante Kriminalromane konfrontieren uns mit den Belangen, Konflikten und Gefahren unserer Zeit und unserer Vergangenheit. Sie decken die Schwächen der Gesellschaften und ihrer politischen Systeme und ihrer Menschen auf. Sie zeigen uns Neues, geben uns Anlass nachzudenken. Manchmal zwingen sie uns, unsere Meinung zu revidieren. Manchmal zeigen sie uns wie in einem Spiegel uns selbst.

Relevante Kriminalromane können die Welt verändern. Sie können uns Leser verändern. Sie werden Teil unserer Identität.

Das ist der große Schatz, den wir beim Lesen finden können.

Oliver Bottini

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