Der Kriminalroman ist ein Genre, in dem Härte und Dreckigkeit erlaubt ist. Sogar Verspieltheit, wenn sie nicht selbstverliebt wird. Detailgenauigkeit, wenn sie nicht geschwätzig wird. Das Genre ist stringent, es verlangt nach einem klaren Plot. Das diszipliniert erst mal. Je mehr Spiralen sich dann um diesen Plot drehen, umso komplexer, umso besser für mich. Da dürfen unterwegs auch gern ein paar Fragen offen, Rätsel ungelöst und Dinge ungesagt bleiben.

Im Krimi steckt für mich ein großes Potential für Realismus, der nicht abbildet, sondern Realität interpretiert, weiterdenkt. Der Kriminalroman eröffnet mir als Autorin einen Raum, den ich mit Stimmen fülle. Diese Stimmen existieren jenseits von Zeit und Raum, von Bildung, Klasse und Gender. Sie existieren gleichzeitig in meinem Kopf und in der Wirklichkeit, wie ich sie mir vorstelle.

Ich lade dazu ein, den ganzen Roman als politisch-gesellschaftliche Utopie zu begreifen: Wären wir in der Lage, multiperspektivisch zu leben – und nicht nur zu schreiben oder zu lesen – dann gäbe es weniger Zuschreibungen, Abgrenzungen, unglückliche Lieben, Profilierungszwang, Rassismus, Sexismus – die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Das ist wie eine Sucht: Habe ich einmal begonnen, mehrere Personen gleichzeitig zu denken, kann ich nur schwer wieder aufhören, weil es plötzlich weiter wird im Kopf und nicht mehr so eng. Gebe ich der Sucht nach, löst sich die Grenze zwischen mir und der Welt, zwischen mir und den anderen, auf. Schizophrenie.

Die erste Figur, die ich erfunden habe, ist Mattie Junghans. Bin ich sie? Ist sie ich? Ist Cut! ein biografischer Roman? Warum hätte ich Mattie Junghans erfunden, ginge es mir um eine rein biografische Angelegenheit? Was ich mag, ist der Begriff eines Alter Ego – ein biografisch inspiriertes Gegenüber, eine Person(a), an der ich mich abarbeiten kann. Mattie ist mir Buch für Buch mehr ans Herz gewachsen – war sie in Cut! tatsächlich eher eine Kunstfigur, von der ich mich durch den Gebrauch der zweiten Person distanzieren konnte, kam sie mir mit jedem Bruch in ihrer eigenen Biografie, mit jedem Zweifel an ihren eigenen Wahrheiten, mit jedem Scheitern ein Stück näher. So nah, dass sie im Ensemble meines letzten Romans Havarie keinen Platz gefunden hat. Ich wollte ohne eine klassische Hauptperson arbeiten. Ohne Ermittlerin, sei sie auch noch so unkonventionell. Jede Person bleibt fragmentarisch, flüchtig. Eine Begegnung im Vorübergehen.

Mattie wäre eigentlich lieber eine Figur in einem Film. Kino ist ihre Leidenschaft, Filme ihre Referenz. Ich hingegen mache Filme, dokumentarische zumeist, jedoch liebe ich am Prozess des Filmemachens das Schreiben, das Basteln, das Erfinden. Meine Bücher sind geschriebene Filme, Kino im Kopf. Die beiden Jüngsten - Grenzfall und Havarie - haben sogar Filme als Geschwister.

Ein Bild: ein brennendes Feld. Zwei Leichen. Ein realer Fall: Die beiden rumänischen Staatsbürger Grigore Velcu und Eudache Calderar wurden 1992 beim illegalen Grenzübertritt zwischen Polen und Deutschland von Jägern angeblich mit Wildschweinen verwechselt und erschossen. Dieses Bild evoziert zwei Stränge: Beide suchen danach, die Lücken zu füllen. Der Dokumentarfilm füllt die Lücken der Justiz mit Fragen und Emotionen und Bildern. Der Krimi macht das Unsichtbare sichtbar: die Recherche, die Rache, das Schweigen. Die Manifestation einer Möglichkeit im Kopf. Explosion des Schmerzes. Vergeltung. Vergebung.

Aus dem Netz gefischt: ein Youtube-Clip von dreieinhalb Minuten Länge. Der Clip zeigt eine Begegnung zwischen dem fünftgrößten Kreuzfahrtschiff der Welt und einem Schlauchboot mit dreizehn Personen an Bord, gefilmt von einem irischen Touristen. Die Perspektive: vom obersten Deck hinunter auf ein kleines Boot mitten im Meer. Was zunächst so klar schien - wir hier oben, die dort unten - wird immer komplexer, je mehr es zu individuellen Biografien führt.

Meine Entscheidung für die Fiktion hat nichts mit Dramatisierung zu tun. Die Realität ist viel dramatischer, gewalttätiger, unfassbarer. Ich habe mich in Havarie entschieden, das reale Ereignis des Aufeinandertreffens zum Anlass zu nehmen, um die Zeit anzuhalten, gleichsam ein 3-D-Modell dieser Situation zu erstellen, das ich von allen Seiten betrachten kann. In diesem modellhaften Raum, der im Hauptteil des Romans gerade einmal 90 Minuten umfasst, kann ich nun in die Rolle jedes Protagonisten schlüpfen und versuchen, ihn oder sie aus ihrer Biografie heraus denken und handeln zu lassen. Ich benutze die Fiktion wie ein Brennglas, ich fülle die Bilder mit Hoffnungen, Erinnerungen und gelebtem Leben, damit sie sich nicht verflüchtigen können, weil wir sie nicht ertragen.
Niemand braucht mich oder mein Buch, um mit Geflüchteten ins Gespräch zu kommen - sie sind ja schon lange hier, fähig und willens, für sich selbst zu sprechen. Niemand braucht mich, um die Brutalität der Globalisierungseffekte zu erkennen, die sich im Zeitmanagement auf einem Containerschiff oder in den Arbeitsbedingungen auf einem Kreuzfahrtschiff spiegeln. Meine Intention ist, eine Situation zu schaffen zwischen meiner Geschichte und dem Leser oder der Leserin, die keine geschlossene ist. Die auch in der bewussten Verknappung der Sprache offene Enden erzeugt, die zum Denken einladen, zum Perspektivwechsel und vielleicht sogar zum Handeln.

Apropos Perspektivwechsel: Kriminalliteratur wird zu 80 % von Frauen gelesen, aber nicht geschrieben. Zumindest nicht die Literatur, die es in die Feuilletons und die Bestenlisten schafft. Der man Relevanz zugesteht. Die als Realismuskonzept, als persönliche und politische Haltung gegenüber der Welt verstanden und nicht als Beruhigungsmittel abgetan wird. Wir sind eine Gruppe von Frauen, die an unterschiedlichen Orten der kriminalliterarischen Buchproduktion wirken. Unser 2015 gegründetes Netzwerk heißt  Herland, benannt nach einem vor 100 Jahren erschienen utopischen Roman von Charlotte Perkins-Gilman. Wir sind politisch, feministisch, antikapitalistisch, gegen rechts, gottlos, aufbrechend, erfolgreich, antipatriarchal. Wir tauschen uns aus, mischen uns ein, beziehen Position. Geben uns nicht damit zufrieden, die Quotenfrauen zu sein. Wir machen gemeinsam Lesungen, und wir betreiben den Blog herlandnews.com.

Merle Kröger

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