Die Übel der Welt
Über Literatur und Politik
(Anfang eines längeren Textes)
Natürlich ist der Schriftsteller ein soziales Wesen, aber wenn es um die Literatur geht, ist er zuallererst Schriftsteller, sind es jedenfalls die Autoren, die mich interessieren, Schreibende, zu deren Existenz das Schreiben so unabdingbar gehört, dass nicht vorstellbar ist, wie sie ohne zu schreiben existieren sollen. So klar die Antwort außerhalb der Literatur sein mag: "Man tut etwas!", bringt mich wahrscheinlich genau deshalb die Frage, wie politisches Engagement in der Literatur aussehen soll, immer in Verlegenheit. Entweder man nimmt die Literatur ernst, als genuinen Ausdruck der Unzufriedenheit mit der Wirklichkeit als solcher, dann ist jede Literatur, die den Namen verdient, engagiert, die Frage, die sich stellt, nur, ob sie gut oder schlecht ist, und der Begriff "engagierte Literatur" leer. Oder man versucht den Begriff enger zu fassen und landet schnell bei Handlungsanweisungen, gegen die das natürliche Freiheitsstreben eines Schreibenden sofort revoltieren muss. Ehrlich gesagt befremdet es mich, wenn ich sehe, wie im Augenblick sogar unter Schriftstellern Barrikaden hochgezogen und Diskussionen geführt werden, mit wem man überhaupt noch reden kann und mit wem nicht mehr, weil er sich außerhalb eines sich stramm formierenden Wir gestellt hat. Und es befremdet mich doppelt, wenn ich lese, wie sich eine Autorin sogar den Freibrief für einen Rückfall in den Sozialistischen Realismus gibt, weil angesichts einer politischen Situation, wo es an vielen Ecken brennt, anscheinend alles klar ist und Zweifel und Bedenken oder gar feinere literarische Verfahren daher wie bloße Mätzchen wirken. So bekennt der junge französische Autor Édouard Louis freimütig, dass er sich mit Michel Houellebecq an keinen Tisch setzen würde, wegen dessen angeblicher Islamophobie, und die junge deutsche Autorin Olga Grjasnowa lehnt die sowjetischen Brachialmethoden des Schreibens zwar einerseits ab, scheint aber in ihrem jüngsten Roman laut eigenem Bekunden nicht umhin zu kommen, sich ihrer zu bedienen. Zugespitzt formuliert, sehe ich nicht, welchen Übeln der Welt mit einer Forderung nach schlechterer Literatur abgeholfen werden soll, im Gegenteil, man fügt den großen Übeln ein kleines Übel hinzu. Warum dann nicht gleich der bewaffnete Kampf? Ich jedenfalls würde einen Aufruf dazu, den buchstäblichen Ruf zu den buchstäblichen Waffen, dessen Romantik nicht nur Autoren der sogenannten Dritten Welt angehangen haben, noch besser verstehen als die Kompromittierung der Sprache und die Kompromittierung der Freiheit des Wortes, die als ausgesprochenes oder unausgesprochenes Zugeständnis in zugegeben schwierigen Zeiten an Schreibende herangetragen werden oder die Schreibende sich selbst abverlangen.
Norbert Gstrein