Literatur und Politik

Satz
1. Für die tagespolitischen Fragen ist die Literatur zu langsam. Man kann und darf von ihr auf diese Fragen keine ernsthafte Reaktion erwarten, da ein literarischer Text Zeit braucht, um komplexen Vorgängen gegenüber eine Haltung auszubilden und für sie eine Sprache zu finden, um ästhetische Kriterien zu entwickeln, mit denen er den Kriterien der Politik begegnen oder ihnen etwas entgegensetzen kann. Literatur, die ihre Berechtigung aus der Aktualität des Themas gewinnt, tendiert zum Journalismus. Wo ist die Grenze, an der ein Text keinen künstlerischen Anspruch mehr aufweist, aufweisen kann? Wann wird ein Text zur Gebrauchsliteratur, zum Medium der Meinungsbildung, zur Kampfschrift, zur Propaganda, wann steht er im Dienst der Manipulation?

Gegensatz
2. Die Literatur ist das moralische Medium schlechthin und in dieser Eigenschaft stets und unvermeidlich politisch. Sie ist auch dann politisch aktiv, wenn sie um die Themen der Politik einen großen Bogen macht. Die Haltung, die sie zu ihrem Gegenstand ausbildet, und sei dieser Gegenstand auch kein bedeutsamer Inhalt, sondern ein gänzlich banaler Inhalt, sei er auch gar kein sogenannter Inhalt, sondern vielmehr die Sprache selbst, diese Haltung kann niemals unpolitisch sein, und jeder Autor tut gut daran, sie zu reflektieren. Welche Machtverhältnisse etabliert ein Text? Welche Sprechposition wird eingenommen, wie ist die Figurenzeichnung, wie der Grad an Einfühlung, Psychologie, Handlungslogik? Wird nah an der Perspektive der Figur erzählt, wird von hoher Warte aus berichtet, wird das Konzept der Figur als in sich geschlossenes Subjekt gar nicht mehr gelten gelassen? Jede einzelne dieser Entscheidungen zieht einen moralisch-politischen Rattenschwanz nach sich. (Und wenn ich hier Rattenschwanz sage, gilt dafür das gleiche.)

Vorsatz
3. Literatur ist eine Form von Erkenntnis. Daher bedarf die Politik im Grunde der Literatur. Alle anderen Textformen bleiben auf dem Feld der Meinung, begeben sich damit in den Kampf um die Deutungshoheit. Der Literatur käme die Pflicht zu, der Politik den Spiegel vorzuhalten.

Wenn es in der Gesellschaft geistige Freiräume geben soll, dann muß diese auch jemand beanspruchen und ausfüllen und nach Möglichkeit ausweiten. Das ist die Aufgabe der Kunst.

Marion Poschmann

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