Anmerkungen zu Literatur und Politik
Im Jahr 2006 las ich einen Artikel über den Tod von 24 Soldaten der israelischen Verteidigungskräfte. Sie waren im Kampf mit der Hezbollah im Südlibanon getötet worden. Der Artikel zählte auf vier Seiten alle Namen mit Lebenslauf und Kommentaren von Freunden auf. Der erste Name war der von Uri Grossman, 20, Sohn des Romanautors und Friedenskämpfers David Grossman. Am Ende jedes Lebenslaufs stand: He is survived by. Er hinterlässt – Eltern, zwei Kinder, eine Schwester. Die Litanei mit dieser Formel löste nicht nur mein Mitgefühl für den berühmten Vater aus, der ja der einzige war, den ich – wenn auch nicht persönlich – „kannte“, sondern sie traf mich auch in ihrem sprachlichen Beharren.
Ich suchte nach einer Möglichkeit, diese starren Versatzstücke in einen alltäglichen Kontext zu setzen. So entstand mein Gedicht ‚Genealogienews‘, in das ich die Formel wie aus dem Himmel mitten in den Alltag fallen ließ. „Die kleine Gartentür schließt hinter dem verlorenen /Sohn. Wenn er heimkommt repariert er sie endlich// und hinterlässt seine Eltern sowie zwei Schwestern.“
Ich erzähle Geschichten und Situationen, erschaffe mit meiner Sprache eine Welt, die, auch wenn sie der Realität mitunter zum Verwechseln ähnlich sieht, mit dieser nichts zu tun hat, denn sie ist Fiktion. Gerade deswegen kann Literatur die Wirklichkeit beeinflussen, indem sie bei Lesern etwas erfahrbar macht, das ihnen sonst entgeht: ebenso wie der Autor sich in eine Figur hineinversetzt, tut dies auch der Leser. Plötzlich erlebt er etwas, das er sich nicht er-träumt hat. Er betritt ein anderes Leben, er kann sogar die Rede und die Gedanken der Figuren weiterdenken. Er führt sich selbst in einen anderen Gesichtspunkt. Eine Transformation findet statt. Mit dem Kopf sieht er etwas Ungewohntes am Horizont, sein Raumgefühl ändert sich, er spürt die Nähe bislang fremder Personen, die ihm bald so bekannt werden wie der Autorin, die sie schon länger kennt.
Noch eine andere Wirkung traue ich der Sprache zu: die Sensibilisierung der Leserin für Nuancen, feine Töne, Doppeldeutigkeiten. Eine Redewendung gibt ihr Geheimnis preis, ein schlafender Sinn, der nur darauf gewartet hat, geweckt zu werden, taucht unter der Oberfläche auf. Ich meine nicht die Entlarvung mittels eines Kalauers, sondern eine Entwicklung von einer schlicht blauen Blume zu einem Rittersporn, einen Zuwachs an Genauigkeit und Freude.
Unter dem Druck journalistischer Tagesthemen zählt es zu den wichtigsten Aufgaben des Schriftstellers, Klischees zu widersprechen. Auch die Antworten auf Klischees sind oft Klischees. Beschreibt man aktuelle Inhalte in einer anderen Sprache, können sie mehr bewirken als die gängigen Versatzstücke. Davon träume ich: einen einfachen lyrischen Satz in einem Boulevardmedium, der verstört oder erheitert, auf jeden Fall aufhorchen lässt.
Je mehr Daten wir sammeln, desto unübersichtlicher wird die Welt für uns. Als Autorin muss ich mich konzentrieren und darf mich, abgesehen von der Recherche, nicht zu sehr ablenken lassen. Die Gefahr, dass aktuelles Material und Informationen in einem so genannten engagierten Roman angelesen wirken und wie kleine Vorträge im Reden der Figuren erscheinen, ist groß. Damit hatte ich auch beim Schreiben meines letzten Romans, ‚Yemen Café‘ zu kämpfen. Immer noch streiche ich vor einer Lesung neue Sätze heraus und bemerke mit Staunen, dass sie nicht fehlen.
Evelyn Schlag