Fuge in Schnee-Moll
Variation über Musik und Sprache

Aus der aufmerksamen Stille löst sich ein Ton. Er schwillt an im gespannten Wispern der Streicher und wächst. Die Bassgruppe setzt ein, tiefgründig und dunkel. Ein Sturm kündigt sich an. Das Fagott warnt hell, dann setzt das Klavier ein und lässt es schneien.

Sprache ist Musik.
Und ich bin Komponistin.
Mit Rhythmus und Takt reguliere ich beim Schreiben die Geschwindigkeit von Gedanken, gestalte mit Worten in Dur oder Moll die Klangfarbe meiner Geschichte.
Wie jeder Text seinen eigenen sprachlichen Stil fordert, braucht er auch seine eigene Musikalität. Diese zu finden und zu erkennen, erscheint mir manchmal das Schwierigste am Schreiben.
Immer wieder lese ich mir die Sätze laut vor, erprobe den Ton, füge Silben oder Wörter ein, lösche und verschiebe, bis es in meinem inneren Ohr stimmig klingt. Formale Regeln oder Schemata sind dabei nicht wichtig. Die Frage allein ist: Hat ein sommerlicher Wind ausreichend Wärme und Melodik? Hat das gefrorene Eis die entsprechende klangliche Verdichtung?
Bei dieser Arbeit muss es vollkommen still sein um mich, denn jedes Geräusch, das nicht aus meinem Kopf kommt, hinterlässt unerwünschte Spuren im Text.

Die Streicher jetzt eine Quinte höher. Celli und Bass übernehmen verhalten das Thema, begleitet von einem lang gehaltenen Ton der Oboen. Die dicken Wolken schütteln sich aus. Dann ein Tempowechsel. Energisch, energetisch mischen sich die Hörner ein, und die Sonne bricht durch.
Musik ist Sprache.
Und ich bin Übersetzerin.
Beim Schreiben über Musik übertrage ich Klänge in Worte. Hole Rhythmus, Stimmung und Tempo in Satzgefüge.
So lange studiere ich die ausgewählten Stücke, bis sie irgendwann von allein in mir klingen und die Geschichten, die sie mir erzählen in Sprache Gestalt annehmen. Dann dichte ich den Noten Bedeutungen an, den Pausen eine Himmelsfarbe und den Synkopen hallende Einsamkeit. Ein schneller, absteigender Lauf wird zum barfüßigen Mädchen auf einer Treppe, ein sehnsuchtsvoller Akkord zu einer Kindheitserinnerung. Beim Hören haben die Assoziationen freie Bahn, denn allein Musik berührt ohne Umweg über das logische Verstehen die Emotionen. Unmittelbar.
Die Figuren in meinen Texten werden oft musikalisch getragen und dabei passen ganz unterschiedliche Stilrichtungen. Ob aber David Bowie oder Schubert – die Musik ergänzt die Figur, bringt sie näher zu sich selbst, und dadurch auch den Leser näher zur Figur.

Vereint schwingen sich die Stimmen ein letztes Mal auf. Stolz trägt das Orchester das Thema vor, noch einmal erhebt sich der Sturm. Die Bassgruppe donnert, die Bläser tosen. Das Klavier peitscht den Schnee durch die Luft, alles versinkt. Die Pauke schlägt. Und aus.  

Anne von Canal

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