1) „Von allen Künsten ist das Kino die Wichtigste.“ Dieses Lenin-Zitat war das erste, was man sah, wenn man ein Kino-Foyer betrat. Mit goldenen Buchstaben geschrieben zierte es jedes Kino der Volksrepublik Bulgarien. Von den vielen Zitaten und Parolen, die überall in der Öffentlichkeit warben, gehörten diese Worte zu den wenigen, die man auch ernst nahm, denn in jedem Dorf, egal wie klein es auch war, gab es einen Kinosalon.

2) Alle Filme, bis auf die Einheimischen, waren untertitelt. Meine Großmutter aus der Stadt im Gegensatz zu der vom Land war Analphabetin. Kaum hatte ich die Buchstaben gelernt, nahm sie mich schon mit ins Kino. Ich sollte für sie lesen. Verständlicherweise buchstabierte ich am Anfang eher als ich las. Die meisten Worte gingen verloren, doch meine Großmutter war zufrieden und lieferte sich parallel rundherum Wortgefechte mit den Leuten, die sich aufregten. Nach und nach wurde ich immer besser, las flüssiger, was auch in der Schule mit Wohlwollen bemerkt wurde und es begannen sich auch andere Menschen im Kino um uns zu versammeln, die selber nicht lesen konnten. Einige, weil sie es nie so gut gelernt hatten, andere, weil ihre Augen es nicht mehr erlaubten. Manche schenkten mir auch Süßigkeiten und meine Großmutter war einfach nur stolz.

3) In meiner Heimatstadt gab es zehn Kinos und zwei Sommerkinos, alle mit nur einem Salon. Aufführungen gab es von zehn Uhr morgens bis 22 Uhr abends, alle zwei Stunden, bei Überlängen alle zweieinhalb oder drei Stunden. Gewöhnlich zeigte jedes Kino einen anderen Film, ganz selten lief in zwei Kinos parallel derselbe Film. Ich kannte alle Kinos. Ich war erst zehn, als ich begann allein ins Kino zu gehen. Vor den Kassen gab es oft Schlangen. Ich stellte mich geduldig an. Bald entdeckten die anderen, dass ich alleine dastand. Dass so ein kleines Kind allein ins Kino ging, begeisterte die meisten so sehr, dass sie mich gewöhnlich immer weiter nach vorne schoben, bis ich die Kasse erreichte. War es ein Film, den man nur in Begleitung eines Erwachsenen anschauen durfte, dann bat ich jemanden aus der Schlange mir die Karte zu kaufen. Beim Betreten des Salons war es dann notwendig jemanden zu finden, der so tat, als ob er mit mir unterwegs wäre. Es fand sich immer jemand. Natürlich war ich auf der Suche nach Komödien und Western. Ich wählte die Filme nach den Titeln und nach den Fotos, die draußen aufgehängt waren. So sah ich Filme, die ich sehr langweilig fand, weil ich sie nicht verstand, doch ich blieb ruhig bis zum Schluss in der Erwartung, dass gleich jemand eine Waffe ziehen und sich gleich alles ändern würde. Filme, die ich mochte, sah ich mindestens drei Mal. Uns gegenseitig Filme zu erzählen, gehörte zu einer der beliebtesten Tätigkeiten unter uns Burschen und jene, die es besonders gut konnten, genossen großes Ansehen. Es war auch die einzige Art von Gespräch, bei der man sich nicht ständig unterbrach.

4) Wenn wir als Gymnasiasten die Schule schwänzten, gingen wir oft ins Kino. Besonders gern, wenn es draußen kalt war und die Zeit, bis wir unverdächtig eine Wohnung aufsuchen konnten, so schrecklich lang erschien. Vor dem Film gab es immer eine politische Wochenschau. Nach dieser geschah es manchmal, dass die Lichter angingen und alle Ausgänge von Milizbeamten gesperrt wurden. Dann wurden alle Schüler aufgefordert den Saal zu verlassen, ihre Namen und die Schule wurden aufgenommen. Da jede oder jeder, der ein Gymnasium besuchte, eine Uniform mit dem Wappen der Schule tragen musste, hatten sie ein leichtes Spiel. „Was ist daran so schlimm? Genosse Lenin hat doch gesagt Kino sei das Wichtigste“, zitierte in unserem Sinne einmal mein Schulfreund. Gewöhnlich hatte er bessere Ideen.

5) Wenn die Filme schlecht waren, was besonders für die heimischen Produktionen galt, waren die Kommentare, die manche Zuschauer laut(hals) von sich gaben, viel interessanter und inspirierender. Bei einem historischen Film über Kahn Asparuch, dem Gründer Bulgariens, gab es eine Szene, in der er sich alleine am Schlachtfeld umsieht und laut aufschreit, „Wo seid ihr tapferen Bulgaren?“ „In den Arbeitslagern“, kam genauso laut die Antwort aus dem Saal.

6) Es geschah in meinem letzten Schuljahr. Bergmans Filmfassung von „Szenen einer Ehe“ wurde in der Stadt gezeigt. Da sie um die vier Stunden dauerte, gab es nur eine Vorstellung täglich, die um 18 Uhr begann. Die Schlange vor der Kasse war unglaublich. Nur die Star Wars-Filme hatten eine ähnliche gehabt. Ich habe mich hingestellt. Vor mir standen Frauen mit Arbeitsschürzen und Arbeitskitteln unterschiedlicher Farben und Männer in Overalls und andere mit von Maschinenöl geschwärzten Händen. Natürlich gab es auch Intellektuelle und Studenten und Schüler, aber die meisten waren Menschen, die gerade ihren Arbeitsplatz verlassen hatten, um eine Karte zu ergattern. Ich bekam eine Stehkarte. Der Saal war so voll, dass einige sogar unter der Leinwand lagen. Das Licht ging aus. Der Film begann. Vier Stunden lang redeten eine Frau und ein Mann miteinander, sonst geschah wenig. Es war totenstill bis zum Schluss, kein einziger verließ den Raum. Und auch als wir gingen, waren alle leise.

7) In der Diktatur, in der ich aufwuchs, gab es keine Oppositionspartei. Diese Rolle hatte die Kunst übernommen. Ein gutes Buch, ein guter Film, eine Theateraufführung oder Ausstellung hat die Menschen um sich gesammelt und sie konnten sich ohne Angst über das Wahre, das Gute und das Schöne unterhalten. Es war der einzige Ort, wo Wahrheit und Gerechtigkeit zu finden waren.

Dimitré Dinev

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