Literatur & Film

Ich misstraue dem Film. Ich habe ihm immer misstraut. Und ich misstraue ihm bis heute, obwohl ich den Verdacht hege, dass er an Gefährlichkeit eingebüsst hat. Der Bildschirm und das Sofa sind harmloser als die Großleinwand und der Kinosessel.

Wenn ich ein Buch lese, wenn ich im Theater sitze, kann ich kritische Distanz wahren. Ich kann mich zurücklehnen und die Beine übereinander schlagen. Ich kann kühl und überlegt sein. Der Film legt es darauf an, mich zu überwältigen. Im Kino kann ich nicht denken. Wenn ich während eines Films anfange, nachzudenken, ist meistens etwas faul. Der Film nimmt mich für sich ein oder er lässt mich kalt.

Während eines Films habe ich keine Zeit, mir das Gesehene noch einmal vor Augen zu führen, mir das Gehörte noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Der Schnitt erlaubt es, unmittelbar zwischen unterschiedlichen Figuren, Orten und Zeiten zu springen. Wenn ich ein Buch lese, kann ich jederzeit innehalten, den Satz noch einmal lesen, eine Seite zurückblättern oder das Kapitel noch einmal von vorne beginnen. Auf der Theaterbühne brauchen die Figuren Zeit, um sich neu aufzustellen, Gänge müssen physisch zurückgelegt werden, Umbauten dauern, die Drehbühne rotiert in provozierender Langsamkeit. Im Vergleich zum Film ist das Theater unendlich langsam. Ich habe Zeit, den Blick und die Gedanken schweifen zu lassen. Ein Buch fügt sich im besten Fall für eine Weile in mein Leben ein. Die Figuren begleitet mich im Alltag. Mit einem Buch kann ich leben. Und ist es ein gutes Buch, bedauere ich es, wenn es ausgelesen ist, sich langsam wieder aus meinem Leben verabschiedet und vom nächsten Buch überlagert wird. Ein Film reißt mich für seine Dauer aus meinem Leben. Ich werde an ferne Ort versetzt, in fremde Leben und Schicksale hineingeworfen.

Als Autor spüre ich die verschiedenen Geschwindigkeiten bereits beim Schreiben. In der Prosa kann ich einen Gedanken über mehrere Seiten verfolgen. Im Theaterstück ergründen und verhandeln die Figuren die Welt beim Sprechen. Wenn ich ein Drehbuch schreibe, ist mir jeder Dialog zu viel. Selten ist etwas gewonnen, wenn es ausgesprochen wird. Am liebsten würde ich die ganze Handlung in die Blicke, die Mienen, die Gesten der Schauspielerinnen und Schauspieler legen. Wenn ich Emotionen sehe, kann ich mitfühlen, sobald sie ausgesprochen werden, sind sie schal. Ein Dialog im Film ist nur dann interessant, wenn er nicht sagt, was er meint. Erklärt eine Figur der anderen ihre Liebe? Macht sie ein Versprechen? Schimpft sie wüst? Ich bin ständig auf der Hut und misstraue dem Gesagten.

Lorenz Langenegger

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