Ich bin keine Pfeife. Das wollte ich gleich zu Beginn klarstellen. Je ne suis pas une pipe. Höchstens vielleicht, was meine französische Aussprache betrifft. Aber ansonsten bin ich keine Pfeife. Nicht, dass Sie das denken! Denn es ist mir absolut nicht egal, was Sie denken. Über Ihre möglichen Gedanken mache ich mir viele und verdiene damit sogar mein Geld. Wenn ich einen Text illustriere, dann versuche ich mir vorzustellen, was Sie sich vorstellen könnten. Welchen Anblick Ihnen die Worte bieten. Stellen wir uns einen zu illustrierenden Text vor. Sie lesen ihn. Ich tue das auch.
Nach der Lektüre nehme ich an, dass nun ein vom Wort gezeichnetes Bild in Ihren Gedanken existiert. Um das Geschriebene in meiner Illustration nicht einfach nur zu wiederholen – und damit das, was Sie bestimmt bereits innerlich sehen –, versuche ich also mit meinen Bildern etwas Neues zu erzählen, etwas, was der Text noch nicht beschreibt. Denn tatsächlich wäre es doch vermessen, würde ich versuchen, Ihr von Ihren Gedanken und Erfahrungen und gekannten Bildwelten geschaffenes Bild mit meiner Bebilderung in Konkurrenz treten zu lassen. Ihre Enttäuschung wäre mir sicher. Entweder entspricht mein Gekratztes überhaupt nicht Ihrem Vorstellungsbild oder es beschämt Ihr Bild, weil meines so viel besser ist. Immerhin bin ich ja keine Pfeife.

Bei Verlagen, Lektor:innen, Redakteur:innen und meinem Ex-Mann stößt mein Vorgehen nicht immer auf Begeisterung. Man munkelt, dass ich den Leser und seine Vorstellungskraft überschätze. Dass meine Illustrationen zu viel Platz zwischen Text und Bild lassen, den der Betrachter nicht zu füllen vermag. Dass Sie, das Publikum, vielleicht zwischen den Zeilen lesen können, aber nicht zwischen den Bildern. Dabei ist das der wahre Verrat, nicht am Bild, sondern am Publikum, das weiß, wie Lücken mit Assoziationen gefüllt werden können: Wir sind doch alle keine Pfeifen.

Vor Kurzem allerdings pfiff ich aus dem letzten Loch: »Du altes Adlerohr!«, hechelte eine Freundin mir bei unserer letzten Joggingrunde zu. Ich hatte den Alarm ihres Timers durch mehrere Schichten Funktionskleidung gehört. Das zarte Piepen läutete die von mir so sehr herbeigesehnte Laufpause unseres Intervalltrainings ein. Ein Adler hätte die von uns zurückgelegte Distanz sicherlich belächelt – wobei Vögel genau betrachtet schnabelbedingt kein Grinsen zustande bringen – auch kein herablassendes. Und wenn ich den Adlerkopf genau unter die Lupe nehme, kann ich auch kein Ohr entdecken. Wie lustig ein Adler mit Ohren aussehen würde. Schnaufend lasse ich mir das Bild auf dem Augapfel zergehen: ein Adler mit riesigen Segelohren. Doch da, wo die Muschel sein sollte, sehe ich ein Loch, nein, zwei, gähnende Leere.

Mit Leerstellen kenne ich mich aus! Zum Beispiel mit der, die sich zwischen zwei Bildern im Comic ergibt. Dieser meist weiße Streifen (bei mir ist er technikbedingt schwarz) hat im Fachjargon vom Zeichner und Comicexperten Scott McCloud sogar einen Namen bekommen: »the Gutter«, der Rinnstein. Hier fließt Ihr Gedankenstrom (oder vielleicht auch eher ein Rinnsal – je nach Kopfbesitzer). All das, was Sie sich vorstellen, was zwischen dem ersten und dem zweiten Bild passiert sein könnte, hat in dieser Lücke Platz. Sehen wir im ersten Bild ein Messer und im zweiten eine Leiche, dann werden wir im »Gutter« zum Beobachter eines Mordes. Hier fließt also nicht nur Blut, sondern auch Ihr Gedankenstrom. Sicherlich mag es auch Menschen im Publikum geben, die wirklich nur ein Messer und dann einen blutenden Körper wahrnehmen und keinen Zusammenhang für möglich halten. Dennoch behaupte ich, dass es sich hier nur um Anhänger von gewaltfreier Kommunikation handeln kann – ihr Geist wehrt sich gegen die Gewalt der Assoziationen.

Ich bin Zeichnerin. Nein, ich bin Autorin. In jedem Fall bin ich keine Pfeife. Denn ich beschreibe die Dinge mit Worten und Bildern. Je nachdem, was für eine Annahme Ihrer Gedanken ich habe. Denn die sind mir nicht pi(e)pe.

Line Hoven

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