Die Ästhetik der Zielscheibe
„Oberhalb meiner Kommode hängt ein Gemälde“, behauptet die Ich-Figur in einem meiner Romane. „Es trägt den Titel Target und stammt von dem US-amerikanischen Maler Jasper Johns.“
Mein Protagonist schwindelt natürlich. Ich selbst war es, der ihm diese Worte in den Mund gelegt hat. Die Schwindelei beschränkt sich allerdings im Wesentlichen auf die Besitzverhältnisse. Auf meine Empfehlung hin ist seine Wahl auf ein Gemälde gefallen, das zur Sammlung des Museums moderner Kunst seiner Stadt gehört. Es ist ihm also in gewisser Weise zugänglich. Sofern er über eine Dauerkarte verfügt, kann er es während der Öffnungszeiten des Museums besuchen, wann immer er will. Vorausgesetzt, das Bild befindet sich nicht gerade im Depot. Sollte es allerdings keiner Überholung bedürfen oder ausgeliehen sein, hängt es aller Wahrscheinlichkeit nach in einem der Schausäle. Immerhin gilt es als eines der Glanzstücke der Sammlung – einer der Gründe, weshalb mein Protagonist behauptet, dass es oberhalb seiner Kommode hängt.
„Auf grünem Hintergrund erscheint eine Zielscheibe, die sich aus orangefarbenen und violetten Kreisen zusammensetzt“, lasse ich ihn schildern und weiter: „Bemerkenswert ist, dass es sich bei einer Zielscheibe ebenfalls um etwas handelt, dessen Funktion maßgeblich von der Gestaltung der eigenen Oberfläche bestimmt wird.“ Was er damit meint, ist: Eine Zielscheibe ist zweidimensional – nicht anders als ein Gemälde. Die mit dem Motiv einer Zielscheibe bemalte Leinwand unterscheidet sich, so gesehen, nur insofern von einer richtigen Zielscheibe, als es keine ist. Verwirrend, aber im selben Moment erhellend.
In etwa so lässt sich die Beziehung beschreiben, die ich als Schriftsteller zur bildenden Kunst unterhalte. Ich male mir Situationen aus, um von ihnen zu erzählen. Ich fasse sie in Worte, ehe sie an Kontur verlieren. Sich selbst überlassen, bestünde keinerlei Grund, dass auch nur eine von ihnen an einem bestimmten Erscheinungsbild festhält.
Jasper Johns‘ violett-orangefarbene Zielscheibe vor grünem Hintergrund stammt aus einer Serie von Gemälden mit dem gleichen Motiv in verschiedenen Farben und Formaten. Jede einzelne funktioniert als Zielscheibe für Blicke. Die Geschehnisse, die ich schildere, beobachte ich wie aus dem Inneren eines Fahrzeugs heraus. Die Fenster sind geschlossen. Alles spielt sich um mich herum ab. Ich kann es nicht riskieren, den Blick von meinem Ziel zu nehmen. Noch ehe ich es erreicht habe, stelle ich fest, dass es sich um eine Zielvorrichtung handelt. Das vermag mich längst nicht mehr zu überraschen. Das Ziel bleibt, so gesehen, in seiner Unerreichbarkeit unverwechselbar.