Herkunft: Ein Thema am Puls der Zeit

Eine Nachbetrachtung zu den 45. Innsbrucker Wochenendgesprächen

Mit den Klausuren im Fach Deutsch endete am Freitag, 5. Mai, die erste Woche der Zentralmatura in Österreich. Eine der Aufgabenstellungen war die Interpretation eines Kapitels aus dem Roman „Herkunft“ von Saša Stanišić, erschienen im Jahr 2019 und ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis. Zur selben Zeit trafen sich im Tiroler Landestheater zehn Autor:innen, um im Rahmen der 45. Innsbrucker Wochenendgespräche zu ebendiesem Thema – Herkunft – zu diskutieren. Im Tiroler Landestheater, in dem in der kommenden Spielsaison, der ersten unter Neo-Intendantin Irene Girkinger, die dramatisierte Version von Stanišićs Roman seine österreichische Erstaufführung erleben wird.

Woher wir kommen, welchen Punkt auf der Landkarte wir Heimat nennen, ob wir mit dieser Herkunft im Reinen sind oder nicht, und wie sehr das unsere Identität prägt, das sind Fragen, die zurzeit offenbar viele Menschen umtreiben. Die zu den Wochenendgesprächen geladenen Autor:innen zeichneten sich zudem dadurch aus, dass sie sich, in der einen oder anderen Form, mit diesem Thema auch literarisch auseinandergesetzt haben. Entsprechend dicht, informativ, aufschlussreich und anregend waren die Gespräche an den beiden Tagen.

Lesen und Diskutieren

Vorangegangen war dem ein Leseabend im ORF Studio 3, wie auch schon in den Jahren zuvor eine literarische Vorstellungsrunde sämtlicher Autor:innen; und einmal mehr hat sich gezeigt, dass man in zehn kurzen Lesungen einen schönen Eindruck bekommt von der je individuellen Herangehensweise an das Thema. Und dass sich laute und leise Töne, Nachdenkliches und Humorvolles wunderbar ineinanderfügen und in Summe einen stimmigen Abend ergeben (der mit einer Gesamtdauer von eineinhalb Stunden die Länge einer herkömmlichen Einzellesung nicht wesentlich übertraf; ein Hoch auf die disziplinierten Autor:innen!).

Die Gespräche selbst moderierte ein Autor, der prädestiniert war für diese Aufgabe: Michael Stavarič, in Brünn geboren, nach Laa an der Thaya emigriert, mittlerweile in Wien lebend, vermittelt – als Übersetzer, als literarischer Netzwerker – zwischen den beiden (Sprach-)Welten; als Moderator erwies er sich als belesen, bestens vorbereitet und von einer wohltuenden Empathie, kombiniert mit der Gabe, die Diskussion anzuregen und laufen zu lassen und nur dann einzugreifen, wenn es tatsächlich nötig ist.

Irritation und Distinktion, geografische Enge und sprachliche Weite

Gesprochen wurde über vieles in diesen zwei Tagen, über Erwartbares und auch weniger Erwartbares. Etwa, dass die Sache mit der Herkunft nie so eindeutig ist, wie es manche gerne hätten; das weiß Maddalena Fingerle, die bei Gesprächspartner:innen oft Irritation auslöst – Was, aus Südtirol kommst du? Aber du sprichst doch nicht so! Ein erster Hinweis darauf, welch eminente Rolle die Sprache im Themenkomplex „Herkunft“ spielt; nicht zuletzt im offiziell dreisprachigen, man möchte demnach vermuten, offenen und aufgeschlossenen, in der Realität jedoch so oft einengenden Südtirol. Das war unter anderem den Berichten von Anne Marie Pircher – einst bis nach Kalifornien vor dieser Enge „geflohen“ – und Waltraud Mittich – wohl auch aus diesen Gründen zur kämpferischen Achtundsechzigerin geworden – zu entnehmen: Herkunft assoziiert mit Enge, nicht mit Geborgenheit.

Sprache(en) als Exklusions- und Distinktionsinstrument, aber auch – davon wusste Ilma Rakusa zu erzählen – als Heimat der anderen Art, wenn, wie in ihrem Fall, die geografische Herkunft bestenfalls in einem „Unterwegs“ festzumachen ist und Zugehörigkeit und Identität auf anderen Wegen erarbeitet werden müssen. Dazu passt eine Erinnerung von Anna Baar, die als kleines Mädchen an der Hand der geliebten Großmutter in Graz ein slowenisches Lied anstimmt, von der Großmutter zum Schweigen gebracht wird und nicht versteht, gar nicht verstehen kann, wieso die sonst eifrig gemeinsam gesungenen Lieder plötzlich etwas Schlechtes sein sollen. Aber vielleicht führt gerade solche Prekarität der Herkunft zu einer besonderen Beheimatung in der/den Sprache(n) und einem Sensorium für ihre Zwischentöne und besonderen Färbungen.

Dazugehören-Wollen und Weggehen-Müssen

Herkunft liegt manchmal eben quer zu (Sprach-)Grenzen, wird von ihnen durchschnitten, gern politisch vereinnahmt und umkämpft, ist mitunter schambehaftet, jedenfalls nicht selbstverständlich. Das gilt auch für das Herkunftsmileu; denn auch ein Innsbrucker Kind mit einem „fremden“ Akzent, mitgegeben vom Elternhaus, tut sich schwer, wie Carolina Schutti erzählte. Vieles von diesem Fremd- und Anderssein ist in ihren Roman „Meeresbrise“ eingeflossen und vermittelt eine Ahnung davon, was es heißt, dazugehören zu wollen, aufgrund seiner Andersartigkeit aber von vornherein ausgeschlossen zu sein.

Dass Herkunft auch problematisch werden kann, wenn man kein Außenseiter ist, davon berichteten Robert Prosser und Markus Köhle. Der eine (Prosser) musste möglichst viele Kilometer zwischen sich und sein Herkunftsdorf bringen, um zu sich zu finden und dann, unter völlig anderen Vorzeichen, wieder dorthin zurückzukehren; der andere (Köhle) brauchte mehrere Anläufe, um sich mit der Herkunft auch literarisch auseinanderzusetzen; und was die Zuhörer:innen zum Lachen brachte, war es für den Autor gerade nicht.

Eine Frage, viele Antworten

Und selbst, wenn man fast ein Leben lang dort verbracht hat, wo man aufgewachsen ist, scheint es nicht ohne Reibung abzugehen. Andreas Maier, der sich seiner Herkunftsgegend, der Wetterau in der Nähe von Frankfurt, im elfbändigen Großprojekt „Ortsumgehung“ widmet, hat auf die Frage, woher er kommt, gleich mehrere Antworten parat – je nachdem, wer ihn fragt: „Im Ausland sage ich, ich stamme aus Deutschland. Einem Deutschen sage ich, ich bin Hesse. Einem Hessen gebe ich zur Antwort, ich komme aus der Wetterau. Einem Wetterauer: Ich bin Friedberger. Einem Friedberger würde ich erklären, ich stamme aus dem Barbaraviertel. Einem Barbaraviertler wiederum, ich bin im Mühlweg aufgewachsen. Und im Mühlweg würde ich die Antwort geben: Ich bin ein Maier.“

Vom Privileg, zu schreiben, und vom Privileg, zuzuhören

Wer bin ich und was hat das damit zu tun, wo ich herkomme? Darüber hätte man wahrscheinlich noch lange reden können, aber schon die beiden Tage haben eine Fülle von Anregungen zum Nach- und Weiterdenken geboten, Anreiz auch, das eine oder andere noch einmal nachzulesen und, ganz allgemein, das Thema im Auge zu behalten. Denn an dieser Auseinandersetzung führt sowieso kein Weg vorbei, und wahrscheinlich muss sie auch immer wieder aufs Neue geführt werden. Als Autorin, das merkte Ilma Rakusa in der samstagnachmittäglichen Schlussrunde an, fühle sie sich auch privilegiert, diesen Fragen immer wieder literarisch nachgehen zu können; der Begriff „privilegiert“ musste noch näher definiert werden – als etwas, das einem nicht unbedingt zufällt, das auch mit Anstrengung, mit Arbeit verbunden sein kann –, bevor alle damit einverstanden waren.

Aber vielleicht sind die wahrlich Privilegierten ohnehin die Zuhörer:innen, das treue Stammpublikum der Innsbrucker Wochenendgespräche, das mit dem vergleichsweise geringen Aufwand, die Veranstaltung zu besuchen, mit diesen und zahlreichen anderen Einsichten beschenkt wurde.

Joe Rabl, Mai 2023

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