Herkunft

„Ich komme nicht von woanders, ich gehe nur woandershin.“ Was mich zu dieser Erklärung auf dem Umschlag meines einzigen noch erhaltenen Notizbuchs aus der frühen Jugend bewog? Die wiederholte Erkundigung nach meinem Herkommen, das mir peinlich war vor den Heimatstolzen, und das ich überwinden zu können meinte, indem ich weit genug davon abrückte. Ich suchte es unschädlich zu machen durch

1. Ablehnung sowohl der Mutterfremdsprache als auch des väterlichen Schöndeutsch

2. Verleugnen der Tatsache, dass Mutter- und Vaterland in meinem Fall tatsächlich zweierlei bedeuteten

3. Verschmähung der da wie dort herrschenden Sitten, Unsitten, Dünkel und Gebräuche und

4. Verstöße gegen die Erwartung, etwas aus mir zu machen, das den herrschenden Vorstellungen eines guten und richtigen Lebens entspräche.

Die auf ererbten Lorbeeren ruhenden Hochwohlgeborenen waren genauso lächerlich wie jene, die sich eine beklagenswerte Herkunft zugutehielten, um ihren Meriten mehr Gewicht zu verleihen. Es blieb mir daher nichts übrig als die Verlagerung des Besonders- und also Absonderlich-Seins von der angeborenen Bedingtheit in eine Gegenwart, die ich nicht zu fassen kriegte, und in eine Zukunft, von der ich keine Vorstellung hatte.

Und jetzt? Frage ich mich, ob die Herkunftsfrage nicht doch vermehrt zu stellen wäre in Anbetracht des Zweifels, ob sie überhaupt noch gestellt werden dürfe, wobei es den Zweiflern in Wahrheit nur um die Frage geht, ob die Herkunftsfrage jenen zu „ersparen“ wäre, denen sie eine andere, und zwar eine inferiore Herkunft anzusehen meinen, jenen also, die durch die Frage in Verlegenheit kämen. Und ich frage mich, ob der Verzicht auf die Herkunftsfrage im Sinne einer Korrektheit, die ihrem Wesen nach auch die Neubewertung und gegebenenfalls Unterdrückung freundlichen Interesses erfordert, nicht für sich genommen eine Bekräftigung des Makels einer bestimmten Herkunft wäre, umso mehr, als eine als Toleranz getarnte Korrektheit das negative Vorurteil gegenüber einer gemeinhin als minderwertig geltenden Abkunft oder Zugehörigkeit erst erhärtete – als Geste großzügiger Nachsicht, die doch in Wahrheit nichts anderes wäre als Herablassung und Selbstüberhebung.

Anna Baar

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