Zurück in die Herkunft

Dass Zukunft und Gegenwart nach wie vor wesentlich von der Herkunft geprägt sind,

sollte einem als gelerntem Österreicher klar sein. Dass es keinen Grund und doch immer wieder Gründe gibt, die Herkunft zu verleugnen, sollte einem als gelerntem Provinz-Tiroler auch nicht fremd sein. Dass einem Provinz-Tiroler immer ein Stallgeruch anhaftet, sollte einen als Dorfkind auch nicht überraschen. Dass es aber auch Stallgeruchsverkennung gibt, ist näherer Betrachtung wert.

Eine Reise zurück in die Herkunft ist in meinem Fall aber nicht Tirol-Tourismus-Poster- Romantik-Kitsch; ist nicht Urlaub am Bauernhof in trauter Eintracht mit Ferkel, Kuh und Hahn; ist keine Schilehrervergangenheit mit Après-Ski-Schnackselpraxis und Hüttengaudianimationsdiplom. Eine Reise zurück in die Herkunft führt mir den Verkehr vor Augen, den Transitverkehr. Nassereith ist ein Verkehrsknotenpunkt. Der Weg raus aus dem Dorf war aber alles andere als vorgezeichnet. Niemand in meiner Verwandtschaft hatte Matura. Ich besuchte die Hauptschule in der Bezirkshauptstadt und als 12jähriger war eher der Sport eine Möglichkeit, dem Dorf zu entkommen. Auf die Sport- folgte die Musikphase. Literatur als Exit-Strategie war undenkbar.

Papa war Maler und Anstreicher auf Baustellen, Mama Hausfrau, Mutter, Oma-Pflegerin, Teilzeitverkäuferin und Aushilfskraft in der Tankstelle gegenüber. Wenn ich ihr – wie es als gut erzogener 5jähriger so meine Art war – einen Besuch abstatten wollte, hatte ich die Bundesstraße zu überqueren. Damals freilich kein Zebrastreifen weit und breit – obwohl Auffahrt zum Hallenbad. Damals auch erlaubte 70 km/h – trotz dichter Besiedelung. Ich bin in dieser Zeit nur zweimal „unters Auto kemme“, wie das damals genannt wurde, wenn man über- oder angefahren wurde. Einmal – so mein Vater – habe dabei der Tirolerhut, den ich aufhatte, auf der Straße rollend einen Kreis gezeichnet, während ich in hohem Bogen in die an die Tankstelleneinfahrt grenzende Wiese gespeckt wurde. Ja, es wurde bewusst „gespeckt“ gesagt. So wie man Murmeln ohne böse Absicht speckt und das Belgische Urlaubspärchen ja auch keine bösen Absichten verfolgte, es wollte schlicht möglichst schnell am Zielort ankommen, und dass die Bremsen nicht richtig funktionierten, wusste man bis zum Wegspeck-Vorfall ja auch nicht.

Der Dorfpolizist war um allgemeine Schadensbegrenzung bemüht, schaute, dass das junge Pärchen schnell wieder weiter kam, ermahnte mich, in Zukunft besser aufzupassen und alle waren froh, dass nichts Ernstes passiert war. Ich konnte mittlerweile auch wieder stehen und sprechen und bedankte mich aufrichtig für die zwei Tafeln Belgische Schokolade als Schadensersatz und die gut gemeinten Ratschläge anstelle einer Bestrafung. Der Dorfpolizist hieß Kiechl. Die Tankstelle Esso. Das Dorf Nassereith.

Dass ich Schule, Matura und Uni-Abschluss machen konnte, verdanke ich einerseits der Aufopferungsbereitschaft meiner Eltern und andererseits auch der Bildungspolitik der 1980er und 90er Jahre.

Ohne freien Universitätszugang, hätte sich die Möglichkeit eines Studiums für mich nicht aufgetan. Ohne weitgehend freies Studieren, hätte sich die Möglichkeit des Schreibens für mich nicht eröffnet. Ohne Kulturinitiativen hätte ich das Schreiben und Vortragen nicht als Möglichkeit das Leben anderer zu bereichern erkannt. Ohne Bildungspolitik, die diesen Namen verdient und ohne Strukturen also keine Kultur, keine Literatur und somit eine Möglichkeit weniger, der Herkunft zu entkommen.

Was bin ich warum geworden?

Ich bin nicht gewordentlich. Ich bin umstandsgeprägt.

Markus Köhle

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