Herkunft

Es gibt einige entlarvende Redewendungen zum Begriff Herkunft, die erkennen lassen, wie bestimmend unsere Wurzeln für uns sind. Als „Eine aus einem armseligen Land Dahergelaufene“ bezeichnet sich Herta Müller in „Der König verneigt sich und tötet“. Von zweifelhafter Herkunft also, ohne Ansehen, nichts geltend. Das Wort Dahergelaufene gibt es in vielen Sprachen, im Italienischen heißt es: una casuale, eine Zufällige, nicht Verankerte, sie kann sich nicht ausweisen. Die Frage stellt sich: Wann ist eine eine nicht Dahergelaufene? Früher, es ist nicht gar so lange her, galt Meissner Porzellan, Erbstück, als bürgerlicher Herkunftsnachweis. Dazu eine lustige Geschichte. Mein römischer Freund sagte über eine gemeinsame Bekannte, alte Achtundsechzigerin: In ihrer Kredenz steht Meissner Porzellan, sie betont, es sei ihr nicht wichtig, aber „e nvece guai se nun cià l’avesse“: Wehe, wenn sie es nicht hätte. Das Porzellan ist längst ersetzt mit anderem, sehr Teurem, Fernreisen in Gebiete, wo wenige hinkommen, Einladungen zum Hahnenkammrennen in der VIP-Lounge, alles nicht so wichtig, aber „guai“ – „wehe wenn“. Statussymbol aber ist ein vergangenes Wort genauso wie Standesdünkel. Die zweite Redeweise, die da lautet: Vergiss nicht, woher du kommst, zeigt nicht weniger deutlich das Wesen unserer Herkunftserzählung. Vergiss die Wurzeln nicht, aber gemeint sind hauptsächlich wohl jene, deren Herkunft wir als zweifelhaft, ungesichert, subtil minderwertig wahrnehmen oder deuten. Der deutsche Comedian Felix Lobrecht sagt es so: „Ich hatte einfach das Gefühl, dass man so von oben herab auf mich guckt, und diese Haltung begleitet mich einfach schon mein Leben lang.“ Er kommt aus dem Problemviertel Neukölln in Berlin. Ganze Länder haben Probleme mit ihrer Herkunftserzählung. Die estnische Minister Präsidentin Kaja Kallas sagt bei ihrem Besuch in Deutschland: „Es ist eine große Ehre für mein Land, hier zu sein. Wenn man sieht, wo wir herkommen.“ – Herkunftssuche ist Spurensuche. Wie könnten wir unsere Herkunft vergessen? Ist sie doch zementiert, das Elternhaus ordnet unsere Erfahrungen ein, Wert-und Geschmacksurteile stehen fest. Die Angst, keine Spuren zu hinterlassen, ist groß. Bücher schreiben wir, so viele wie noch nie, 95 % der gedruckten kommen über eine Auflage von 100 Stück nicht hinaus. Die Angst treibt uns um, seit die religiösen Sicherheiten abhandengekommen sind. Ahnenforschung ist wieder aktuell. Suche nach Genen, nach Erinnerung, Prägungen, die bereits das Kind in sich trägt, bevor es geboren ist. Die Bindungen sind vielfältig, auch zu den Toten. In Afrika gibt es Landstriche, heimgesucht von der Dürre, aber die Einwohner ziehen nicht weg, weil ihre Toten allein zurückblieben. Sie sind Herkunft und Zukunft. Es ist gut möglich, dass alle rückwärtsgewandte Herkunftssuche uns Sicherheit gewährleisten soll in einer Welt, in der ein Lebensgefühl der Unsicherheit vorherrscht, als sei die Zukunft abgesagt. Und auch die Kriegsziele eines Diktators wie Putin sind rückwärtsgewandt, er führt einen Kolonialkrieg, ein Imperium sei wiederherzustellen, mittelalterlich orthodox. Gleichzeitig nehmen wir uns äußerst wichtig in der Gegenwart als kostbare Individuen und wollen unser Ich ausbauen, sicherheitshalber. – In die Zukunft aber blicken könnten wir mit Neugier und uns gleichzeitig Geschichten erzählen über Herkunft und Spurensuche, Spuren legen, weit dürfen sie zurückreichen bis zum Heiligen Berg Sinai, meine Enkelinnen lieben ihn und seine Geschichten, weder wissend, was heilig bedeutet, noch zum Glauben daran erzogen, aber intuitiv verstehend, dass Sinai-Geschichten Menschheitsgeschichten und Menschheits-Erinnerungen sind. Und die Enkel schlagen die Brücken von der Herkunft zur Hinkunft, es ist dies ein altes mir angenehmes Wort mit der Bedeutung „von nun an“. Herkunft ist ein weites Feld, global bestimmte Schicksale sind nun bedeutsamer, sie hat viele Verbindungen zur Freiheit. Wir können uns als moderne Menschen von der Fessel Herkunft befreien, Aufstieg und Abstieg auf der sozialen Leiter. Ich selbst sehe Herkunft gern als eine Erinnerung an einen Kinderhimmel, an die weiße Wolke, die dahinsegelte, ohne Erklärung, ohne Versprechen, unschuldig, frei, frei zu segeln, sie war da und verschwand. Denn Herkunft, welche? Heimat, wessen? Über die Zukunft einer schuldlosen Herkunft ist zu berichten. Bruno Latours großartige Schlussfolgerung in seinem Buch „Das terrestrische Manifest“ lautet: Europäer ist, wer es sein will. Damit endlich Gerechtigkeit sich einstellt zwischen den ehemaligen Kolonisatoren und den vormalig Kolonisierten und die Schuld getilgt ist. Der Kassandraruf von Erri De Luca aus seinem Gedicht „Siamo gli innumerubili“ sollte uns in den Ohren dröhnen: Wir werden zu Dienern machen die Kinder, die ihr nicht macht.

Gerechtigkeit für die Herkunft!

Waltraud Mittich

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