Zur Herkunft

Es gibt einen Stammbaum, von einer umtriebigen Dorfarchivarin erstellt, der bis ins 17. Jahrhundert reicht, zu zwei Höfen am Talschluss. In den 1920ern wurde die erste befestigte Straße gebaut, aus dem Inntal hoch, bis dahin blieb es ein abgeschotteter Ort, von zeithistorischen Begebenheiten nicht sonderlich berührt. Stattdessen: Überschaubare familiäre Verzweigungen, viele Kinder, viele Kindstode, der im Suff verspielte oder angehäufte Besitz, große Bauern, kleine Bauern, niemals einfache Leute, aber immer an dieses eine Tal gebunden. Man schwieg über die Zäsur der Weltkriege und fügte sich in die Veränderungen, die ab den 1960ern der Tourismus bedingte. Die Herkunft, die immerzu das gleiche, unveränderliche Panorama vor Haus und Hof hatte, war für mich ein Grund, abzuhauen. Fort aus der alpinen Kleinlichkeit, eine notwendige, alltägliche Flucht. Die Herkunft blieb ein Ärgernis, weil ich, kaum nannte ich Tirol, als Naturbursche wahrgenommen wurde, als jemand, der ausgezeichnet Schifahren können muss, sturschädlig, geradlinig usw., mal belächelt, mal bewundert: Klischees, an deren Entstehung der Tourismus wesentlich Anteil hat. Auf den Bergen lasten ebenso viele Stereotype wie Seilbahnanlagen, und passt man nicht auf, wird man selbst zu einem Abziehbild auf zwei Brettern. Diese Herkunft ist mit der Landschaft vermählt und diese Landschaft lässt einen nie in Ruhe. Dorfgesellschaft, Gebirge, Urlaubsindustrie, dazu muss man sich verhalten. Ohne Tourismus gäbe es mich nicht. Meine Mutter war die erste in meiner Familie, die nicht aus dem Tal oder der näheren Tiroler Umgebung stammte, sondern aus der Steiermark. Meinen Vater hat sie Ende der 1970er auf Saison kennengelernt, sie war Kellnerin, er Koch. Steirer arbeiteten am Bau der Brennerautobahn, Steirerinnen gingen ins Gastgewerbe, viele blieben der Liebe wegen. Ich erinnere mich an versiffte Personalzimmer und das Chaos einer Hotelküche, verborgen international: Mochten die Gäste vorwiegend wohlhabende Deutsche oder Engländer sein, kamen die Angestellten aus Portugal, Ex- Jugoslawien, der Türkei. Ich selbst bin lange weggewesen und letztlich doch zurückgekehrt, habe dank geografischer Distanz und der Freiheit, die ich woanders erfahren habe, hier überraschende Freiräume (wieder-)gefunden. Als Richtungsweis habe ich beim Schreiben des jüngsten, in Tirol spielenden Romans einmal notiert: Bastard-Folklore. Vielleicht können damit die Klischees durchbrochen werden. Weder unter den Bauern und Bäuerinnen, noch unter der Hotel-Belegschaft, wird außer Anekdoten viel erzählt. Und ich weiß nicht, ob dieses Schweigen die Herkunft charakterisiert, oder ein tiefergehendes Verständnis unmöglich macht. Vielleicht lässt sich aber durchs Schreiben eine Antwort finden.

Robert Prosser

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