Herkunft

Herkunft sei nicht ohne Zukunft, Zukunft nicht ohne Herkunft zu denken, meinte der Philosoph Odo Marquard. Das schafft eine Balance, die den Blick in die eine oder andere Richtung entkrampft.

Aber klar, meine Herkunft war prägend, wie sollte ich das leugnen. Auch gibt es keinen Grund, ihr entkommen zu wollen. Ich verdanke ihr all das, worauf ich mein Leben aufgebaut habe, ohne dass sie mich in meiner Freiheit eingeengt hätte.

Der Osten, damit fing es an. Rimavská Sobota, Budapest, Ljubljana. Ständige Umzüge, kein Kinderzimmer, ein Pelzhandschuh als Kuscheltier und ständiger Begleiter. In Ljubljana machten mir die nächtlich rangierenden Züge Angst, während der Garten meiner Tante zum Paradiesgarten wurde. Kein Glück ohne Schattenseite, das lernte ich früh. Und ich lernte Sprachen: zuerst Ungarisch, dann Slowenisch, und in Triest ein wenig Italienisch, „um überzusetzen von hier nach dort“. Meine Neugier war groß, und meine Eltern ermutigten mich, Neuem offen zu begegnen, ohne Vorurteile und Angst. Ihre Aufgeschlossenheit hat mich stets beflügelt. In Triest, das damals eine geteilte Stadt war, gab es die Weite des Meers, die Heftigkeit der Bora und einen Hauch von Süden, zugleich die Präsenz von Grenzen, die ich als ambivalent erfuhr. Einmal mehr zeigte das Glück seine Schattenseiten.

Im Januar 1951, im Alter von fünf Jahren, verschlug es mich mit meinen Eltern und meinem kleinen Bruder nach Zürich. Eine markante Zäsur. Die Stadt und das Leben in ihr wirkten fremd, als fremd wurde auch ich wahrgenommen, obwohl ich rasch Deutsch und Schweizerdeutsch lernte. Diese Erfahrung spiegelt mein Gedicht „Anders“:

Das Lammfellmäntelchen drückte nicht
aber sie schauten
schauten mich an wie eine Blöde
wo kommt die her
was will die hier
bei uns
uns war nicht ich war nicht mein
Mantel meine Sprache mein Kleid
alles anders
du bist anders
kicherten sie
und zeigten mit dem Finger auf mich
ich stand
ich wand mich nicht
blieb
immer draußen am Zaun
lernte beobachten
Bäume und Sträucher meinten es
gut mit mir
wurden weiß gelb grün
wie zärtliche Schleier
ich träumte sie
oder träumten sie mich
wie ich dem Mantel entwuchs?

in der Schule hob ich die Hand nur allein
nie in der Gruppe
die Wir-Spiele liefen an mir vorbei
und keiner hieß mich ein Täubchen
ich gehörte mir selbst
ich genas

Nein, es ging nicht um soziale Benachteiligung, es ging auch nicht um traumatische Erlebnisse. Es ging um ein Gefühl der Differenz. Und dieses blieb. Es machte mich früher selbständig als gedacht. Zugehörigkeit zu einem Kollektiv zu entwickeln fiel mir schwer. Gegenüber Ideologien aller Art gab ich mich resistent. Mich beschäftigte die Vielfalt – der Sprachen, der Phänomene, und ihre jeweilige Besonderheit. Ohne zu werten.

Zur Literatur fühlte ich mich schon als Kind hingezogen. Meine Mutter las mir bis zum Schulalter ungarische Märchen und Gedichte vor, deren Sound sich meinem Ohr tief einprägte. Als ich selber lesen konnte, gab es kein Halten mehr. Ich war Nils Holgersson und Pippi Langstrumpf und Robinson Crusoe und Mowgli, entrückt in eine Welt, die sich vom Alltag phantastisch abhob. Und eines Tages las ich Dostojewskijs Roman „Schuld und Sühne“ und wusste, dass an Russisch und Russland kein Weg vorbeiführen würde.

Doch zuerst fuhr ich mit dem frisch erworbenen Schweizerpass nach Prag. Der säuerliche Braunkohlegeruch erinnerte mich an das Ljubljana meiner Kindheit, und etwas wie Heimweh kam auf. Es war ein Anfang. Von jetzt an zeigte mein Kompass stets nach Osten, in die Richtung, aus der ich aufgebrochen war, und noch weiter. 1969/70 verbrachte ich ein Studienjahr in Leningrad, in der Folge befasste ich mich wissenschaftlich und übersetzerisch mit russischer Literatur, später auch mit anderen slawischen Literaturen und der ungarischen. Tut man, was man kann – oder was man muss? Wo liegen die Gründe?

Meine Herkunft erwies sich als Katalysator und Orientierung für die Zukunft, sie war ein Teil von mir, der entfaltet werden wollte. Entfaltet, nicht verleugnet, produktiv gemacht, nicht kleingeredet. Zugegeben, ich hatte Glück. Mit meinen Eltern, mit der großzügigen, weltoffenen Erziehung, die sie mir zuteilwerden ließen, mit ihrem Entschluss, ihre Kinder in einem demokratischen Land aufzuziehen und für ihr Wohlergehen zu sorgen. Einige kleinere Narben habe ich gleichwohl davongetragen, die Zugluft meiner nomadischen Kindheit verfolgt mich manchmal bis heute. Und die Verwerfungen in Ost- und Südosteuropa sind keineswegs spurlos an mir vorübergegangen, vor allem die Jugoslawien-Kriege und neuerdings der brutale russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Nicht nur, weil ich Freunde und Verwandte in diesen Gegenden habe, sondern weil ich mir nichts sehnlicher wünsche als ein Ende der politischen und ethnischen Konflikte, die „meinen“ Osten immer aufs Neue erschütterten und noch erschüttern. Zugehörigkeitsgefühl? Vielleicht doch. Aber nicht gegenüber Staaten mit ihren Fahnen. Es sind Landschaften, Gerüche, Geschmäcker, die Koseformen des Ungarischen und der Dual des Slowenischen, die mir nahe sind – und wunderbare Menschen, darunter viele Dichter und Dichterinnen, die die Republik der Freiheit und der Poesie verteidigen.

Ilma Rakusa

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