Herkunft

Das Internet vergisst nicht. Manchmal verflucht man diese Tatsache, manchmal kann sie aber recht nützlich sein, beispielsweise, wenn man Zitate von sich selber findet, die man längst vergessen hat. „Heimat sei mehr als Herkunft“, habe ich – laut Internet – anscheinend einmal in einem Interview gesagt. Wenn man „Heimat“ sagt, muss die Herkunft mitgedacht werden und umgekehrt. Vor nicht allzu langer Zeit schrieb ich einen kleinen Essay zur indisch-amerikanischen Autorin Jhumpa Lahiri, nachdem ich mich ausgiebig mit ihrem Roman Wo ich mich finde beschäftigt hatte und dessen Kapitelüberschriften Antwort auf die titelgebende Frage zu geben scheinen: auf dem Bürgersteig. Am Ticketschalter. In der Sonne. Vor dem Spiegel. Im Stillen. Jhumpa Lahiri ist mir in vielerlei Hinsicht sehr nahe. Ihre Sprach- und Schreibbiografie, all die Kompliziertheiten in Bezug auf Fremdsein, Heimischwerdung, Identitätsfindung, trafen bei mir einen Punkt, der mich sofort hellhörig werden ließ, doch im Unterschied zu ihr konnte ich, solange ich meinen Mund nicht auftat, unerkannt durch die Gesellschaft treiben.

Mit der Frage nach meiner Herkunft muss ich mich in meinem Alltag längst nicht mehr auseinandersetzen. Vergangen, wenn auch nicht vergessen, sind die qualvollen Tage, an denen ich krampfhaft versuchte, mir mein polnisches, rollendes „r“ abzutrainieren, um von den Tiroler Kindern nicht ausgelacht zu werden. Die Scham darüber, bei allen Gelegenheiten meinen Nachnamen buchstabieren zu müssen, und das Herzklopfen, sobald die Bekanntgabe meiner Adresse offenbarte, dass ich im sogenannten „O-Dorf“ lebte, das ich nur allzu gerne beschönigend als „Neu-Arzl“ bezeichnete. Die bittere Erkenntnis schließlich, mit dem Hannoveraner Akzent meines Vaters das „falsche“ Deutsch gelernt zu haben und damit auf einem weiteren Abstellgleis gelandet zu sein. Mühsam schmierte ich wenigstens so etwas wie eine Tiroler Aussprache über meine deutschen Sätze, die bis ins junge Erwachsenenalter hinein immer noch Schlaglöcher aufwiesen, tiefgehende Unsicherheiten in Bezug auf Grammatik und Wortwahl. Zuhause war ich in meiner zweiten, nunmehr einzigen, Vatersprache lange nicht.

Jahre später, als mich bei einer Schullesung eine Jugendliche für meine Formulierungen lobte und fragte, ob ich denn beim Schreiben dauernd nachschlagen würde oder tatsächlich alle Wörter auswendig wisse, kamen mir die Tränen.

In meinem Buch Meeresbrise bin ich zwar meinen abgehängten, etwas merkwürdigen, isolierten, unangepassten Figuren treu geblieben, habe mich jedoch ganz dem Thema der sozialen Herkunft verschrieben. Sie besteht in diesem Fall aus einem unseligen Gemisch aus Außenseitertum, Armut, niederem sozialem Ansehen und einem manipulativen Lügenkonstrukt, in dem eine Mutter ihre beiden Töchter lange Zeit gefangen hält. Gemeinsam am Rande der Gesellschaft zu stehen wird als „familiärer Zusammenhalt“ euphemisiert. Frei umgedeutete Märchen, schaurige sogenannte „Tatsachen“ über die beiden Väter der Mädchen – der eine ein Maler, der sich von einer Brücke in den Tod gestürzt habe, der andere Mutters Vergewaltiger – sollen die Kinder enger an die Mutter binden, die aber ohnehin weder Freundinnen noch Spielkameradinnen haben.

Es braucht ungeheure Willenskraft und Mut, aber auch Türen in die „Welt da draußen“ und nicht zuletzt Menschen, die einem Wegweiser sind, um sich von einer unheilvollen Herkunft lösen zu können. Dieses Lösen geht kaum je ohne Schmerz, ohne schlechtes Gewissen vonstatten. Der Verrat an der sogenannten „Herkunftsfamilie“ nagt an vielen Betroffenen ein Leben lang. „Meeresbrise“, so viel sei verraten, ist der Geruch einer billigen Seife. Die Angst, sich auch nach Jahren noch durch die Sprache, durch Gesten, Gedanken, emotionale Ausbrüche zu „verraten“, vielmehr noch aber die Scham, über die eigene Herkunft zu sprechen, ist klebriger als jeder Seifengeruch: „Meine Haare sind frisch gewaschen, ich frage mich, ob ich für immer nach Meeresbrise riechen werde“, ist einer der ersten Gedanken der Protagonistin nach ihrem mutigen Aufbruch.

Jede Biografie ist geprägt von einer Mischung aus Gegebenem, aus fremd- und selbstbestimmten Entscheidungen und Handlungen, aus Wissen über die Welt, das nach und nach einen tragfähigen Grund bildet, unabhängig von dem Boden, dem man entsprungen ist. Sehnsüchte und Erwartungen prägen sich erst im Verlauf eines Lebens heraus, die Lebenslinien, die ihren Ursprung nicht in der eigenen Herkunft haben, verdichten sich und machen immerhin Hoffnung, dass sich aus ihnen eine neue Heimat knüpfen lässt.

Carolina Schutti

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