Thorsten Nagelschmidt
Geboren 1976 in Rheine, ist Autor, Musiker und Künstler. Er ist Texter, Sänger und Gitarrist der Band Muff Potter. Literarische Publikationen:Wo die wilden Maden graben. Roman (2007), Was kostet die Welt. Roman (2010), Drive-By Shots. Stories & Fotos (2015), Der Abfall der Herzen. Roman (2018), Arbeit. Roman (2020), Soledad. Roman (2024). Arbeit wurde 2024 für die Aktion Berlin liest ein Buch ausgewählt.
Der Mercedes steht an der Ecke Karl-Lade, bei den Altglascontainern, wie meistens. Er schließt sein Trekkingrad an die Laterne, öffnet das Fahrzeug und setzt sich hinters Lenkrad. Der Apfelgeruch von Hunfelds Duftspray hängt noch in der Luft. Bederitzky zieht den Sitz ein Stück nach vorne und dreht den Rückspiegel nach unten, schön tief wegen der besseren Innenraumbeobachtung, dann startet er den Wagen. Er meldet sich mit seinem neunstelligen Code am PDA an, checkt den Benzinstand, den Kilometerstand und den Kassenstand auf dem Taxameter und überträgt alles auf den Abschreiber. (…) Der Chef will nur, dass monatlich ein bestimmter Betrag eingefahren wird, aber wie der nun zustande kommt, das ist Sache von Hunfeld und ihm. Und so machen sie es seit bald einem Jahrzehnt: Hunfeld hat das Fahrzeug die erste Hälfte des Tages, Bederitzky die zweite. Schon in der alten Firma ist er nur nachts gefahren. Meistens fängt er direkt um 18 Uhr an, manchmal später, wie er eben gerade drauf ist. Tagesform, noch so ein Luxus, den man sich erst einmal leisten können muss. Wobei, dass er sich die Arbeitszeiten selbst einteilen kann, ist Segen und Fluch, wie so vieles im Leben. Er weiß, dass er mehr fahren könnte, dass er mehr fahren müsste, aber länger als sieben oder acht Stunden am Stück hinterm Steuer, und das sechs oder sieben Tage die Woche, da wirst du bekloppt, der Rücken, die Rübe, das Gemüt, das macht was mit einem.
Aus: Arbeit, S. Fischer 2020

Foto: Verena Brüning